Kim Stanley Robinson
Schamane
Im Gedenken an Ralph Vicinanza
Erster Teil
Eistauchers Wanderung
1
Wir hatten einen schlimmen Schamanen.
Das sagte Dorn immer, wenn er selbst etwas Schlimmes tat. Beim geringsten Widerspruch, egal, worum es ging, hob er seine langen grauen Zöpfe an, um einem die fleischigen roten Knubbel um seine Ohrlöcher herum zu zeigen. Dorns Schamane hatte seinen Jungen Knochennadeln durch die Ohren gestochen und sie dann seitlich herausgerissen, damit sie bloß keine seiner Lektionen vergaßen. Dorn hingegen schlug Eistaucher bei solchen Gelegenheiten aufs Ohr und zeigte dann an seine eigene Schläfe, wobei er den Kopf schief legte, wie um zu sagen: Und du denkst, du hättest es schwer?
Im Moment hielt er Eistaucher am Arm gepackt und zerrte ihn über den Kammweg zum Pfeifhasenfels, von dem aus man das Ober- und das Untertal überblicken konnte. Es war spät am Nachmittag, und die schweren Wolken schoben sich wie ein graues Weltendach über die Landschaft. Darunter bewegte sich eine kleine Gruppe Männer im Gänsemarsch über den Grat, Dorn vorneweg. Sie hatten eine Schamanenangelegenheit zu erledigen. Es war an der Zeit für Eistauchers Wanderung.
— Warum heute?, wandte Eistaucher ein. — Ein Unwetter zieht auf, das siehst du doch.
— Wir hatten einen schlimmen Schamanen.
Und da waren sie also. Einer nach dem anderen umarmten die Männer Eistaucher, grinsten ihn mitleidig an und schüttelten die Köpfe. Ihre Blicke ließen ahnen, dass er eine scheußliche Nacht vor sich hatte. Dorn wartete, bis sie fertig waren, und stimmte dann krächzend das Abschiedslied an:
— Wenn du höflich genug bittest, fügte Dorn hinzu und gab Eistaucher einen Klaps auf die Schulter. Dann wurde viel gelacht, und die Männer bedachten ihn mit teils hämischen, teils ermutigenden Blicken, während sie ihm Kleider, Gürtel und Schuhe abnahmen und alles an Dorn weiterreichten, der Eistaucher so böse anstarrte, als wollte er ihn gleich schlagen. Und als Eistaucher ganz nackt und all seiner Besitztümer beraubt war, versetzte Dorn ihm tatsächlich einen Schlag, wenn auch nur locker, mit dem Handrücken vor die Brust. — Geh. Mach dich davon. Wir sehen uns bei Vollmond. Bei klarem Himmel hätte man im Westen die erste schmale Sichel des Neumonds sehen können. Eine dreizehntägige Wanderschaft also, die er mit nichts begann, so wie jeder Schamane bei seiner ersten Wanderschaft. Doch diesmal zog ein Unwetter auf. Außerdem war erst der vierte Monat, und es lag noch Schnee.
Eistaucher wahrte eine ausdruckslose Miene und blickte zum westlichen Horizont. Es wäre würdelos gewesen, um einen Monat Aufschub zu betteln, und ohnehin sinnlos. Also starrte er an Dorn vorbei und überlegte, wie er hinunter ins Untertal gelangen sollte, wo der von Baumgrüppchen gesäumte Bach floss. Der übliche Abstieg vom Pfeifhasenfelsen war sehr steinig, weshalb er ihn barfuß besser nicht nehmen sollte. Die erste von vielen Entscheidungen, bei denen er sich nicht vertun durfte.
— Freund Rabe hinter dem Himmel, sagte er in einem lauten Singsang. — Führe mich nun, aber führe mich ohne Tücke!
— Wenn du Rabe dazu bewegen willst, dir zu helfen, dann viel Glück, sagte Dorn. Aber da Eistaucher im Gegensatz zu Dorn aus der Rabensippe stammte, beachtete er den Einwurf nicht und blickte auf der Suche nach einem Pfad ins Tal. Dorn versetzte ihm einen weiteren Klaps und führte die anderen Männer zurück über den Kammweg. Eistaucher stand allein da. Er spürte den schneidenden Wind auf der Haut. Zeit, seine Wanderschaft zu beginnen.
Aber es war nicht ersichtlich, welchen Weg er nach unten wählen sollte. Für eine Weile schien es, als würde er einfach an Ort und Stelle erfrieren und niemals die Reise seines Lebens antreten.
Also regte ich mich in ihm und gab ihm ein wenig Kraft.
Er begann, über die Felsen hinabzusteigen. Einmal drehte er sich noch um, um Dorn die Zähne zu zeigen, aber der war mit den anderen bereits an der Flanke des Höhenzugs hinabgestiegen und außer Sicht. Eistaucher lief weiter abwärts und schleuderte jeden Gedanken an Dorn weit von sich. Die zersplitterten Steine unter seinen Füßen waren hier und da mit Schnee bedeckt, der sich in Senken und neben Erhebungen sammelte, ein Muster, das seine Schritte lenkte. Lauf geschmeidig wie eine Katze, von Fels zu Fels hinab, immer bereit, kleine Sprünge mit den Händen abzufangen. Seine Zehen waren eiskalt, und er überließ sie ihrem frostigen Schicksal und konzentrierte sich darauf, seine Hände warm zu halten. Dort unten zwischen den Bäumen würde er sie brauchen. Es begann zu schneien, erste, feine, kalt piksende Flöckchen. Auf dem Hang gab es große Schneeflächen, auf denen er besser laufen konnte als auf den Steinen.
Er zog den Brustkorb zusammen und presste alle Wärme nach außen in seine Gliedmaßen, schnaufte, bis etwas Hitze in ihm aufflackerte und der Nadelschnee auf seiner Haut schmolz. Manchmal konnte man nur durch noch größere Eile warm werden.
Er kletterte abwärts und dann über die Felsbrocken in der Rinne, die der Bach unten im Tal eingegraben hatte. Auf der anderen Seite konnte er über den dünnen Waldboden wieder hochlaufen. Der Untergrund war unangenehm schwammig, durchweicht von Regen und geschmolzenem Schnee. Hier ging er den Schneeflecken aus dem Weg. Der erste Tag des vierten Monats: Es würde nicht leicht werden, ein Feuer zu machen. Doch wenn es ihm gelang, hatte er eine um vieles angenehmere Nacht vor sich.
Das obere Ende des Untertals verengte sich zu einer steilen, gekrümmten Schlucht. Um die Quelle des Bachs stand eine kleine Gruppe von Fichten und Erlen. Dort würde er Schutz vor dem Wind finden und Zweige, aus denen er sich Kleider machen konnte, und unter den Bäumen dort lag mit Sicherheit nicht mehr viel Schnee. Eilig lief er zu dem Wäldchen, achtete dabei allerdings darauf, sich nicht die fühllosen Zehen anzustoßen.
Zwischen den Bäumen an der Quelle angekommen, zog er grüne Fichtenzweige herab und brach mehrere davon ab. Er fluchte laut darüber, wie nass sie waren, doch selbst feuchte Nadeln würden ein wenig seiner Körperwärme bewahren. Er verflocht zwei Fichtenzweige miteinander und steckte den Kopf durch eine Lücke in der Mitte, sodass eine Art Überwurf entstand.
Dann brach er ein totes Stück Wurzelholz von einer Krüppelkiefer ab, um es als Untergrund für sein Feuerzeug zu verwenden. Bei der Quelle fand er einen guten Hackstein, mit dem er einen gerade gewachsenen abgestorbenen Erlenzweig zum Feuerstock abschlug. Er hatte gerade noch genug Gefühl in den Händen, um den Stein zu halten. Ansonsten war ihm nicht besonders kalt, mit Ausnahme seiner Füße, die sich tot stellten. Die schwarze Matte aus Fichtennadeln, die den Boden unter den Bäumen bedeckte, war größtenteils schneefrei. Er kauerte sich unter einen der höchsten Bäume, bohrte die Zehen zwischen die Nadeln und wackelte so ausgiebig wie möglich mit ihnen. Als er ein leichtes Brennen verspürte, zog er sie wieder heraus und machte sich auf die Suche nach trockenem Mulm. Selbst bei den besten Feuerzeugen brauchte man etwas Mulm als Brennstoff.
Er langte ins Innere toter Fichtenstämme und tastete nach Mulm oder Zunderholz. Schließlich fand er ein wenig von Letzterem, das nur leicht feucht war. Dann brach er eine Handvoll toter Zweige ab, die im Schutz größerer Äste hingen. Von außen waren sie feucht, aber innen trocken; sie würden brennen. Auch ein paar größere tote Äste konnte er abbrechen. In dem Wäldchen gab es genug totes Holz, um ein Feuer zu versorgen, wenn es erst einmal brannte. Die Frage war, ob er genug Mulm oder Zunder fand. Weder Fichten noch Erlen ergaben beim Verrotten guten Zunder, also brauchte er Glück. Vielleicht würde er etwas ameisenzerfressenes Holz finden. Er ging auf die Knie und begann, unter den größten umgestürzten Bäumen zu suchen, wobei er sich von den Schneeflecken fernhielt. Auf der Suche nach etwas Brauchbarem drehte er größere Äste um und durchwühlte die Erde. Schnell war er bis zu den Ellenbogen mit Dreck verklebt, aber auch das würde ihn warm halten.