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Schließlich neigte der lange, im Lauf verbrachte Nachmittag sich seinem Ende zu. Das Licht am noch blauen Himmel verblasste, und der Abend brach herein. Während der sich anschließenden Dämmerung lief er weiter, und selbst noch, als die Dunkelheit langsam hereinbrach. Der Mond stand nun schon fast zur Hälfte am Himmel, also beinahe genau über ihm. Noch über eine Woche musste er durchhalten, bevor er zu seinem Rudel zurückkehren durfte! Von jetzt an würde er sich wohl kaum noch einmal sicher genug fühlen, um ein Feuer zu entzünden — nicht, wenn sich irgendwo in der Nähe die Alten herumtrieben. Und sein Knöchel schmerzte noch immer. Bei jeder Bewegung spürte er es.

Aber er lebte. Und notfalls konnte er es eine Woche ohne Essen aushalten. Und auch eine Woche ohne Feuer, zumindest, wenn es nicht wieder stürmte. Selbst wenn es wieder stürmte. Letztlich kam es darauf an, dass er lebte. Er war auf seiner Wanderschaft. Das sollte nicht einfach sein. Er war drei Alten entkommen! Falls er ihnen wirklich entkommen war. Jetzt würde er wirklich etwas zu erzählen haben! Falls er mit seiner Geschichte nach Hause zurückkehrte.

Er sammelte einige trockene Blätter und Zweige und zog sie hinter sich her, in eine Nische zwischen mehreren Felsbrocken unter einem dichten Gestrüpp niedrig gewachsener Fichten. Der ständig vom Hang herabwehende Wind hatte die Bäume auf die Felsen niedergedrückt. Eistaucher riss sich ein Loch in seine Rindenweste, als er in die Nische krabbelte, und seine Beinlinge hingen ohnehin schon in Fetzen. Trotzdem gelang es ihm, sich eine notdürftige Lagerstatt einzurichten, und er fühlte sich gut versteckt. Auf seine Brust geschmiertes Kiefernharz würde seine Witterung überdecken, auch wenn es klebrig war und überall auf seiner Haut piksende Kiefernnadeln kleben blieben. Es würde kalt werden, und sein Knöchel pulsierte mit jedem Herzschlag. Eigentlich hätte er Beifußtee schlürfen und Mistelblüten rauchen müssen, doch im Moment blieb ihm nichts weiter übrig, als die Zähne zusammenzubeißen. Er gab seinen Verletzungen Namen, wie Dorn es immer von ihm verlangt hatte: Die Wunde an seinem Zeh war Spucke, den Schmerz in seinem Knöchel nannte er Kreuch. Spucke und Kreuch sangen ihr kleines Duett, und er versuchte sie zu ignorieren und dem Wind in den Bäumen zu lauschen. Jedes andere Geräusch machte ihn nervös. Dann und wann raschelte es, und gelegentlich pochte ihm dabei das Herz bis zum Hals. Er überlegte, ob es ihm wohl gelingen würde, aus seinem Versteck zu springen, bevor die Speere sich zu ihm hineinbohrten und ihn am Boden festnagelten. Wahrscheinlich nicht. Eistaucher hatte schon Schneehasen aufgespießt, die sich an eben solchen Stellen versteckt hatten. Er wusste, wie so etwas lief. Wahrscheinlich stammte das Rascheln nur von Hasen oder Schneehühnern, vielleicht sogar von Eichhörnchen und Mäusen. Aber es war nicht leicht, mit dem Bild eines Schneehasen vor Augen, dem er einmal einen Speer durch den Hals gejagt hatte, Schlaf zu finden.

Er schlief unruhig, und wenn er erwachte, um eine neue Position zu finden, sich um die kalten Teile seines Körpers zusammenrollte und dabei unweigerlich die warmen Bereiche der Kälte preisgab, lauschte, schnüffelte und sorgte er sich kurz, bevor er wieder einnickte. Er schlief mit einem offenen Auge. Dorn behauptete, dass das möglich sei. Das hatte zur Folge, dass er weniger träumte als vielmehr nachdachte, wobei seine Gedanken sprunghaft und zusammenhangslos waren. Es kam der Moment, in dem er ganz wach wurde, mit kalten Füßen, kalten Ohren und kaltem Pimmel, obwohl er die Arme beim Einschlafen um den Kopf geschlungen hatte. Er fing an zu bibbern, und ihm wurde klar, dass er nicht wieder würde einschlafen können und dass er auch nicht liegen bleiben konnte; dafür zitterte er zu sehr.

Furchtsam zog er sich aus seinem Unterschlupf und blickte sich um. Der fast halbe Mond war kurz davor, im Westen unterzugehen, die Nacht war also zur Hälfte verstrichen. Unglücklich sprang er auf seinem rechten Bein auf und ab; er ballte die Fäuste und drehte sich von einer Seite zur anderen. Erst hatte er das Gefühl, zu müde zu sein, um sich mit Tanzen aufzuwärmen, aber als das Zittern schließlich aufhörte, war er ganz da, weniger müde und neugierig auf das, was er in seinem Unterschlupf nicht gesehen hätte, nämlich die Hochebene im letzten Mondlicht, mit gedehnten, breiten schwarzen Schatten. Nichts regte sich. Es war eine windstille Nacht. Er richtete seine Rindenkleidung, soweit es ging, versuchte, sie fester zu ziehen, und nach einer Weile kroch er wieder in sein Nest. Jeder Unterschlupf ist besser als keiner. Dies war seine Wanderschaft, sagte er sich, er wurde Schamane, er sollte auf die Probe gestellt werden. Er musste nicht nur überleben, sondern dabei auch noch eine gute Figur machen. Kreuch und die umherstreifenden Alten erschwerten seine Aufgabe. Aber er hatte schon fast die Hälfte geschafft. Er musste nur noch acht Tage durchhalten, vielleicht neun. Das Mitzählen fiel ihm schwer. Aber dafür hatte er ja den Mond.

In welcher Verfassung er zurückkehren würde, darum musste er sich später kümmern, und zwar am Tag. Wenn er sowohl den Alten aus dem Weg gehen wollte, die vom Feuer angezogen wurden, als auch nachts jagenden Tieren, die das Feuer mieden, musste er einen besseren Unterschlupf für die Nacht finden als diesen, der einerseits kalt und andererseits zu gut einsehbar war. Er brauchte eine Mulde, ein Katzenloch oder einen Murmeltierbau, in dem er sich zumindest etwas warm halten konnte und trotzdem sehen, ob sich etwas näherte. Vielleicht konnte er sich unter einem Felsbrocken einnisten, mit einigen Ästen, um ihn zu wärmen. Einen Viertelmonat lang wie ein Murmeltier leben.

Kreuch jaulte auf, sodass Eistaucher sich ein Ächzen verkneifen musste. Sein großes Glutbett, so sengend heiß, dass er hatte Abstand halten müssen, kam ihm nun wie ein unvorstellbares Geschenk vor. Annehmlichkeiten sind dumm: Auch das war einer von Heides Lieblingssprüchen. Aber heute Nacht fehlten sie ihm.

Er hatte sich verhalten, als seien die Schlauchtäler, die die Ränder des Hochlands durchfurchten, leer, nur weil in ihnen keine Rudel lagerten. Seine eigene Anwesenheit hätte ihm verraten müssen, dass das ein Irrtum war. Alte, Waldleute, Reisende, Löwen, sie alle hätten vorbeikommen und ihn an seinem Feuer töten können. Das Unwetter der ersten Nacht hatte ihm offenbar den Verstand einfrieren lassen. Er war die Sache von Anfang an falsch angegangen. Während des Unwetters selbst konnte man davon ausgehen, dass alle in ihren Löchern saßen. Nach dem Unwetter lagen die Dinge anders. Da konnten immer Fremde vorbeikommen. Man musste vorsichtig sein. Verführt von seinem Feuer, hatte er das vergessen. Feuer war verräterisch, das ließ sich nicht abstreiten. Aber vielleicht konnte er sich ein sehr kleines Feuer erlauben, wenn er es im Zwielicht direkt vor Morgengrauen entzündete und gerade so am Leben erhielt. Das würde doch sicher gehen?

Nein. Eigentlich nicht. Ihm blieb nichts anderes übrig, als auf und ab zu hüpfen und ein kleines Hin-und-her-Lied zu singen, rechts rechts links, rechts rechts links, immer weiter. Wobei er das linke Bein nicht belasten konnte. Derweil schaute er zum Mond und versuchte sich vorzumachen, dass er voller war. Er wusste tatsächlich nicht mehr, wie viele Tage er schon hier draußen war, doch nun ging er sie in Gedanken in allen Einzelheiten durch, an die er sich erinnerte. Mit den Fingern zählte er mit, wie Dorn mit seinen Jahresstöcken. Er war seit fünf Tagen hier draußen. Ja, fünf Tage. Am zweiten Tag hatte er ein Feuer in Gang gebracht; am dritten hatte er die Bären beobachtet, wie sie ein Reh getötet hatten; am vierten hatte er sich Kleidung aus Rehhaut angefertigt; am fünften hatte er versucht, seinen Lagerplatz zu verlegen. Der anbrechende Tag würde also der sechste sein. Beinahe hätte er laut aufgestöhnt, doch stattdessen ließ er Kreuch reden. Er würde eine Möglichkeit finden müssen, sich ohne Feuer warm zu halten, und er würde etwas zu essen finden müssen. Er konnte etwas sammeln, aber am besten würde es sein, wenn er auch etwas zu töten fand. Ein Tier mit Pelz.