— Ich bin schon wieder schwächer, sagte er. — Ich spüre es.
— Willst du etwas Wasser?
— Jetzt nicht.
Der Morgen verstrich wolkenlos und mit kaum Wind. Vogelgezwitscher erfüllte den Wald, das Keckern eines schimpfenden Eichhörnchens.
— Ich wollte alles, sagte Dorn. — Ich wollte alles.
— Ich weiß, dass du das wolltest.
— Ich mache mir Sorgen darum, was aus euch anderen wird. Was geschieht, wenn Heide stirbt? Niemand von euch ist alt genug, um alles Nötige zu wissen. Ihr werdet umherstolpern, als wärt ihr zurück in der Traumzeit. Unser Wissen ist zerbrechlich. Jedes Mal, wenn wir etwas vergessen, verschwindet es. Und dann muss es jemand von Neuem herausfinden. Ich weiß nicht, wie ihr das schaffen sollt. Ich meine, ich wollte alles wissen. Bis vor ein paar Jahren habe ich mich an jedes einzelne Wort erinnert, das mir je zu Ohren gekommen ist, an jeden einzelnen Augenblick meines Lebens. Ich habe mit allen Leuten in diesem Teil der Welt gesprochen und mir alles gemerkt, was sie gesagt haben. Was soll aus alldem werden?
Eine ganze Weile starrte er Eistaucher nur an.
Schließlich sagte er: — Es wird verloren gehen, das wird passieren.
— Wir tun unser Bestes, sagte Eistaucher. — Niemand kann wie du sein.
Sie saßen da. Dorns Atem ging flach und schnell, er schwitzte und krümmte sich wieder. Heide tauchte auf, und Eistaucher war froh, sie zu sehen.
Viel Zeit verstrich, zwei oder drei Tage; Eistaucher war sich nicht mehr sicher. Es war alles ein sich ständig wiederholender Augenblick. Dorns Atem ging immer flacher, er keuchte und schnappte nach Luft. Heide befeuchtete ihm die Lippen mit einem Tuch und zog es wieder weg, ehe er hineinbeißen konnte. Einmal schien ihn das aufzustören, sodass er zu strampeln und sich in ihrem Griff zu winden begann. Dabei krächzte er Worte, die sie nicht verstanden. Die Zunge in seinem Mund war geschwollen und trocken, seine Kehle ausgedörrt. Er verdrehte den Kopf und schrie undeutlich: — Ach, Heide, ich weiß nicht, ob ich das schaffe!
— Was hat er gesagt?, fragte Heide Eistaucher.
— Ich weiß es nicht, log er.
Er ging zur gegenüberliegenden Seite der Schlafstatt, um Dorns Gesicht nicht sehen zu müssen. Eistaucher hielt Dorns rechte Hand, und Heide nahm seine linke und hielt sie ebenfalls. So zwischen ihnen lag sein Leib bequemer. Dann und wann tröpfelte ihm Heide mit dem nassen Tuch Wasser in den Mund, immer nur ein oder zwei Tropfen auf einmal. Er war bereits weit fort von ihnen.
Nur noch ein einziges Mal erlangte er das Bewusstsein zurück. Heide war gerade fort, um etwas zu erledigen. Dorn öffnete die Augen einen Spaltbreit, doch sie starrten ins Leere. Als er Eistauchers Hand umklammerte, sagte dieser: — Ich bin hier. Heide kommt gleich wieder. Sie ist auch bei dir.
Dorn nickte. Er schloss die Augen. — Moment mal, flüsterte er. — Ich sehe etwas. Dann drückte er Eistauchers Hand und schlief wieder ein.
Heide kehrte an ihren Platz neben der Schlafstatt zurück. So saßen sie da und hielten Dorns Hände. Eine ganze Weile taten sie das, während Dorn atmete. Immer langsamer ging sein Atem, rau in der Kehle. Seine Lider waren geschlossen, die Augen tief in den Schädel gesunken. Sein Mund war ein lippenloses Loch, Kiefer und Wangen mit weißen Barthaaren übersät, die Nase ein schmaler Haken. Die alte schwarze Schlange sah nun mehr denn je wie ein Reptil aus. Er schlief, doch gleichzeitig tat er mehr, als bloß zu schlafen. Während sie Dorn bei den Händen hielten, gewann Eistaucher den Eindruck, dass der Geist des alten Schamanen ganz in der Nähe sei, aber nicht im Innern des Körpers, den sie berührten. Vielleicht sah er auf sie herab, während sein Leib seine letzten Atemzüge tat.
— Geh noch etwas Wasser holen, sagte Heide zu Eistaucher.
— Aber …
— Geh.
Eistaucher nahm einen Eimer und rannte zum Fluss hinab. Erst beeilte er sich, um schnell zurück zu sein, doch dann war er froh wegzukommen.
Im seichten Wasser füllte er den Eimer und starrte dabei in die gelbe Luft eines ganz gewöhnlichen Sonnenuntergangs hinaus, und er dachte: Eines Tages werde ich nicht mehr hier sein, um das zu sehen. Das war die Wahrheit, er spürte es.
Er wollte nicht wieder hochgehen. Also verharrte er im Sonnenuntergang am Fluss. Doch dann meinte er, etwas zu hören, und so drehte er sich um und eilte zurück zu Heides Nest.
Als er näher kam, hörte er von der Mitte des Lagers her Dorns rauen Atem, der wie das rasselnde Geräusch klang, das Raben manchmal von sich geben. Dann wurde es still, und Eistaucher rannte zu Heides Platz. Sie saß noch immer neben Dorn und hielt seine Hand. Kurz blickte sie zu Eistaucher auf, mit leisem Tadel im Blick, weil er so lange fort gewesen war, doch Eistaucher ging wieder an seinen Platz ihr gegenüber und ergriff Dorns rechte Hand, worauf der alte Schamane erneut mit rasselnder Kehle nach Luft schnappte. Seit seinem letzten Atemzug waren mehrere Augenblicke verstrichen, und Eistaucher erschrak, als Dorn bei dem Versuch zu atmen seine Hand packte. Irgendwie lebte er immer noch, obwohl er völlig in sich zusammengesunken war und aussah, als wäre er längst nicht mehr als eine Leiche. Doch dann holte er mit einer weiteren erschütternden Anstrengung erneut Atem. Ein Todesröcheln; dann noch eines; und dazwischen lag er reglos da, während Heide und Eistaucher zu seinen Seiten saßen, ihn bei den Händen hielten und zusahen. Nur einmal wechselten sie einen Blick, als Eistaucher sagte: — Ich frage mich, was er dort drin denkt.
Heide schüttelte den Kopf. — Er ist nicht dort drin.
— Aber er atmet noch.
— Ja, sein Körper versucht es weiter.
Sie hatte recht. Immer wieder wurde er reglos und lag scheinbar tot da; dann zuckte er wieder, sog mit krampfartiger Anstrengung Luft ein, nahm einen krächzenden, röchelnden, rasselnden Atemzug. Der Teil von ihm, der noch lebte, unternahm gewaltige Anstrengungen. Dann wurde es wieder still.
— Kannst du ihm nicht etwas geben?, fragte Eistaucher. — Ihm irgendwie darüber hinweghelfen?
Sie schüttelte den Kopf. — Lass ihn auf seine Art gehen.
Eistaucher spürte ihre Worte wie einen Stich, ehe seine Benommenheit wieder einsetzte. So saßen sie da und warteten. Wenn Dorn atmete, umklammerten sie seine Hände. Beide beugten sich angestrengt lauschend über ihn.
Als es so weiterging, Dorns rasselnde Atemzüge mit jedem Mal kürzer und schwächer wurden, beruhigte sich Eistaucher. Dorn hatte es nun fast überstanden. Sein Leiden war vorbei. Diese letzten Atemzüge schienen nun weniger schiere Sturheit, die Weigerung zu sterben, sondern eher eine Art Abschiedsgruß. Zumindest empfand Eistaucher das so. Als erlaubte Dorn sich einen kleinen Witz. Sich tot stellen; dann wieder etwas Luft einsaugen, versuchen, zu röcheln. Ha, reingelegt. Und dann wieder die lange Leere, in der nichts geschah.
— Es kommt mir vor, als mache er sich über uns lustig, beschwerte sich Eistaucher.
— Ich weiß.
So ging es weiter. Wieder und wieder.
Nach einem dieser kleinen Versuche, Atem zu holen, sagte Heide zu Dorn: — Es ist in Ordnung. Wir sind hier.
Dann warteten sie. Ein weiterer kleiner, reibender Laut war zu hören. Und dann lag Dorn still. Sie warteten und warteten auf seinen nächsten Atemzug. Es schien keinen Grund zur Ungeduld mehr zu geben; sie konnten warten. Warum hätten sie die Sache für ausgestanden erklären sollen, nur um einmal mehr widerlegt zu werden? Sie hatten es nicht eilig damit, recht zu haben. Sie konnten hier mit ihm in diesem Zwischenreich sitzen, am Pass zwischen ihrem Tal und seinem.
Später konnte Eistaucher nicht sagen, wie lange sie so gewartet hatten. Dorns Augen waren halb geöffnet, milchig und blind. Inzwischen war klar, dass es sich bei ihm um den toten Leib eines toten Tiers handelte. Wie immer war der Tod unverkennbar. So viel war verschwunden.
Schließlich regte Heide sich. Sie streckte die Hand aus, um Dorn die Lider zu schließen, legte dann das Ohr an seine Brust und lauschte. Eine ganze Weile lag sie so mit dem Kopf auf seiner Brust da.