Die beiden Lampen brannten nun blass und gleichmäßig. Bei jedem seiner Schritte erzitterten sie leicht. Er war ganz allein, niemand sonst war hier. Anscheinend war weder Dorns Geist noch der von Knack anwesend. Wenn überhaupt spürte Eistaucher die Gegenwart von Pfeifhase, den er nie kennengelernt hatte. Dieser Verrückte, der berüchtigte Bisonmann, hatte als Erster in dieser Höhle gemalt.
Doch selbst Pfeifhase war nicht hier. Eistaucher spürte es: Er war ganz allein. Er erinnerte sich an Zeiten in seinem Leben, in denen Einsamkeit und Dunkelheit genügt hätten, um ihn in Angst und Schrecken zu versetzen. Oft wenn er nachts allein unterwegs gewesen war, hatte er dort draußen etwas erahnt, das er nicht sehen konnte, das vielleicht sogar unsichtbar war und das ihm mit Sinnen auf der Spur war, über die er nicht verfügte, ihm anhand von Spuren folgte, die er nicht verwischen konnte, wie zum Beispiel seines Geruchs. Mehr als einmal hatte ihn diese schreckliche Ahnung überwältigt, sodass er wie ein Kaninchen panisch durchs Mondlicht zurück zum Lager gerannt war. Mit Entsetzen geschlagen, vor lauter Entsetzen in wilder Flucht, und das nur, weil er allein im Dunkeln gewesen war und ihn ein seltsames Gefühl ereilt hatte!
Jetzt spürte er nichts Derartiges. Er war leer. Es machte ihm nichts aus, allein zu sein. Hier gehörte er hin. Er war bereits zuvor hier gewesen und erinnerte sich genau daran. Es war wie damals. Langsam ging er an der Stelle vorbei, an der die Decke herabgestürzt war und sich nun vom Boden erhob, eine große Masse aus weißem und orangefarbenem Gestein, die im Lampenschein funkelte. Weiter, vorbei an den Großkatzen an der Wand zur Linken. Dann eine Linksbiegung und weiter zu dem seltsamen und wunderschönen Steinschilf, das hier den Boden bedeckte. Die Schilfrohre auf dem Boden standen unter Schilfrohren, die tropfend von der Decke hingen; selbst in diesem Moment fielen einige Tropfen herab. Sie ähnelten den Türmen aus nassem Tropfsand, die die Kinder am Flussufer machten. Wie viele Tropfen brauchte es, wenn das Wasser so rein war? Seit wie vielen Jahren tropfte das Steinschilf? Seit den alten Zeiten, als all die Tiere noch Leute gewesen und sie gemeinsam durch einen Traum gewandelt waren. Seit die Welt aus ihrem Ei geschlüpft war.
Er folgte dem Weg, den man immer durch das Steinschilf nahm, trat dabei nach Möglichkeit in die Fußstapfen früherer Besucher. So war es hier üblich. Außerdem war der Höhlenboden teilweise von einer Schlammschicht bedeckt, die zwischen den Zehen hindurchquatschte und in der man hier und da bis zu den Knöcheln versank. Auch deshalb war es besser, auf dem alten Pfad zu bleiben, obwohl die Höhle fast jedes Frühjahr überflutet wurde, wodurch sich die Schlammschicht erneuerte. Durch die Höhle zu gehen erzeugte einen ganz eigenen Klang, ein leises, hallendes Quatsch-quatsch-quatsch.
Langsam. Pass dich der Geschwindigkeit der Höhle an. Sie murmelte, sie pochte, sie atmete, doch all das tat sie sehr langsam, so langsam, dass man zu ihrem Lied nur wie zu einer tiefen Trommel tanzen konnte, indem man zwischen zwei Schlägen auf fünf oder neun zählte. Atme tief die schwarzen Schatten ein. Die Finsternis hinter ihm war finsterer als die Finsternis vor ihm. Jemand hatte mit den Fingern eine Eule auf die gegenüberliegende Seite des herabgestürzten Deckenstücks gemalt; die sah einen im Vorbeigehen aus ihren großen Augen an. Folge dem Pfad um die Ecke.
Dort hing das Felsamulett von der Decke, der Steinbullenpimmel, mit dem Bild des Bisonmannes, der gerade eine Menschenfrau besteigen wollte. Ihre Beine und ihre Kolbi waren unter ihm aufgemalt, und sie hatte die größte, schwärzeste Kolbi, die es gab, wie ein kleiner, dreieckiger Durchgang in eine weitere Höhle. Pfeifhases Werk. Die ganze Geschichte des Bisonmanns und seiner Frau, mitten auf einem Pimmel wie dem, der die Tat begangen hatte.
In diesem Gewölbe wollte Eistaucher etwas malen. Links des Pimmels gab es eine gebogene Wand, die weit höher reichte, als er den Arm strecken konnte. Bei näherer Begutachtung erwies die Oberfläche sich als etwas uneben, mit kleinen Vorsprüngen, abgeplatzten Schichten, Vertiefungen und einigen kleinen Rissen. Aber im Großen und Ganzen war es eine saubere, gekrümmte Steinwand mit vielen glatten Flächen.
Eistaucher stellte die Lampen ab, nahm seinen Rucksack ab, packte ihn aus und suchte den Rentierknochen heraus. Damit brachte er einen Kratzer knapp über Kopfhöhe an, der helleres Gestein unter der braunen Haut zum Vorschein brachte: das bloße Fleisch von Mutter Erde, das im Verhältnis zu den umliegenden Schatten zu strahlen schien.
Dies war die Wand, die Dorn hatte bemalen wollen. Zum ersten Mal spürte Eistaucher, wie Dorn ihn leicht berührte, hinter dem Ohr, und er hörte die vertraute Stimme in seinem Gedächtnis. Dorn redete, wie der alte Schamane immer geredet hatte. Komm her, Junge. Der Klang dieser Stimme, schnarrend und nasal und nicht klar und rein, wie wenn Dorn seine Flöte gespielt hatte, versetzte Eistaucher einen plötzlichen Stich. So klang sonst keine Stimme. Natürlich klangen keine zwei Stimmen gleich, doch diese eine Stimme würde Eistaucher nie wieder hören. Er musste sie sich gut merken.
Eistaucher sagte zu der Höhle: — Hallo, Dorn. Bevor ich anfange, möchte ich mir dein Bild von den Löwen auf der Jagd ansehen. Komm doch mit, wenn du magst.
Er nahm eine der Lampen und folgte dem gewundenen Durchgang zum letzten Gewölbe. Jetzt, wo Dorn tot war, würde er Eistaucher folgen müssen, wenn er mit ihm reden wollte. Deshalb konnte Eistaucher gehen, wohin er wollte. Eistaucher spürte das beim Gehen, spürte, wie sehr es Dorn ärgern musste.
Er stand nun am hintersten Ende der Höhle, vor der großen Löwenjagd, die Dorn vor so langer Zeit gemalt hatte. Eistaucher hatte dabei zugesehen. Einmal mehr wurde ihm klar, dass es das mit Abstand großartigste Bild in der ganzen Höhle war, vielleicht sogar auf der ganzen Welt. Vielleicht würde es für immer das großartigste Bild bleiben. Der hungrige Ausdruck in den Augen der Löwen, die angespannte Wachsamkeit, mit der sich die Bisons zu den Großkatzen umblickten; die Art, wie die Tiere sich bewegten, wenn man die Lampe vor der Wand bewegte; die dicht gedrängten Gruppen, Jäger und Gejagte, die beide von rechts nach links über die Wand glitten und sich bewegten, obwohl sie stillstanden, sich mit jedem Atemzug des Betrachters bewegten, sodass die Löwen in die Wand eintauchten und die Bisons aus ihr heraussprangen. All das zusammengenommen machte diese Wand zum lebendigsten Gemälde, das Eistaucher jemals gesehen oder sich auch nur vorgestellt hatte.
Er saß da, betrachtete das Bild und rief sich so viel wie möglich von der Nacht ins Gedächtnis, in der Dorn es gemalt hatte. Der alte Mann war sehr ruhig und entspannt gewesen, beinahe freundlich. Nein — freundlich. Er hatte seine Pfeife geraucht und auf seiner Flöte gespielt. Dann und wann hatte er innegehalten, um zu essen oder einen Schluck Wasser zu nehmen. Er hatte den Kopf an das atmende und manchmal gurgelnde Loch gehalten, das hinten in einer Ecke im Boden war, um auf die Botschaften der Höhle zu lauschen. Er hatte lange gebraucht, um die Wand zu bemalen, aber er hatte sich nie beeilt.
Die Löwen bewegten sich auf der Stelle und blieben doch, wo sie waren. Die Höhle atmete gemeinsam mit Eistaucher ein und aus. Es klang, als ob tief unter ihm jemand sprach. Er erkannte, dass er es genauso machen wollte wie Dorn. Er würde das tun, was zuvor Dorn getan hatte, jede Stimmung und Bewegung wiederauferstehen lassen. Genau das hatte er vor; und das würde er irgendeinem Jungen beibringen. Wenn man es richtig anstellte, würde all das fortleben.