Sehr langsam ging der Mond unter. Besser gar nicht erst hinschauen, so langsam ging es. Aber Eistaucher schaute hin. Die über den Himmel kriechenden Sterne erloschen über dem struppigen schwarzen Horizont, einer nach dem anderen. Dann und wann tanzte Eistaucher in einer Art stehendem Halbschlaf. Versuchte, einfach nur zu atmen und Ruhe zu finden. Sollte Kreuch das Reden übernehmen.
Einmal öffnete er die Augen und sah, dass der östliche Himmel sich direkt über dem Horizont leicht grau verfärbt hatte. Der Sonnenaufgang war nur noch eine oder zwei Fäuste entfernt. Kurz vor Tagesanbruch war es immer am kältesten. Aber das hielt er aus. Er spürte das Leben in sich, das ebenso laut jaulte wie Kreuch.
Als es hell genug war, um etwas zu sehen, humpelte er über die Hochebene und stieg zu einem Bach hinab, der sich über eine Wand in den Fluss am Grunde ihrer Schlucht ergoss. Er flocht einige lange Grashalme ineinander und legte eine kleine Schlinge in der Nähe eines Grasufers aus, auf dem Huf- und Pfotenabdrücke zu sehen waren. Anschließend hockte er sich hinter einen umgestürzten Baum, der ihm als Sichtschutz diente, und wartete mit einem Stein in der Hand.
Die Sonne ging auf. Ein blasses, wässriges Licht erfüllte die Luft über der Ebene. Als die Strahlen auf seine Haut trafen, spürte er ihre Wärme, als säße er an einem Feuer. Bitte wachse und gedeihe, o strahlender Gott. Tritt wieder in den Sommer ein.
Lange Zeit saß er da und döste in der Sonne vor sich hin. Dann ließ ihn ein lautes Knacken aufspringen, und als er das Reh in der Schlinge sah, warf er den Stein in seiner Hand so fest er konnte und traf es an Hinterlauf und Knie. Ein harter Aufschlag war zu hören, und das Reh ging gerade lange genug in die Knie, damit Eistaucher es über den Stamm hinweg anspringen konnte. Er griff von hinten nach dem kurzen Geweih und drehte es, so fest er konnte, um der Ricke den Hals zu brechen oder sie zu erwürgen. Sie rollte sich herum, um sich dem zu entziehen, und er rollte mit, bekam dabei den Stein zu fassen, den er nach ihr geworfen hatte, und schlug ihr fest zwischen die Hörner auf den Schädel, in dem Versuch, sie mit einem Schlag zu töten. Doch er traf nicht die richtige Stelle und musste erneut zuschlagen, immer wieder, so schnell wie möglich, während das Reh zappelte und sich hin und her wälzte und er mit seinen Schlägen immer wieder abglitt und sich einen festen Tritt auf den Oberschenkel einfing, worauf er einmal ganz danebenschlug und dann schließlich genau traf: Sein verzweifelter Hieb ließ den Schädel des Tiers knirschend brechen. Die Ricke sackte in sich zusammen, und er versetzte ihr zur Sicherheit noch einige Schläge auf die Stirn. Zitternd lag sie am Boden und hauchte ihr Leben aus. Sie blutete aus den Augen und aus einer großen Wunde in der Stirn.
— Danke, Schwester!, rief Eistaucher und spürte, wie das Glück ihn wie ein tiefer Zug Wasser erfüllte. — Gutes Reh!
Sofort machte er sich daran, sie zu zerlegen. Eine junge Ricke. Das ganze Tier würde er nicht verteidigen können, genau genommen musste er sogar so schnell wie möglich von hier verschwinden und durfte dabei keine Spur von Blutstropfen hinterlassen. Er wollte die Hinterläufe so lösen, dass sie über die Wirbelsäule verbunden blieben, damit er sie sich über die Schultern legen konnte; und dazu noch die Haut und das Herz und die Nieren. Während er mit seinem groben Hackstein an ihr herumschnitt, aß er so viel wie möglich vom Hirn. Mit einer guten Klinge wäre die Arbeit ihm so viel leichter gefallen. So konnte er den Stein nur immer wieder herabsausen lassen. Das arme Reh wurde dabei übel zugerichtet, und er entschuldigte sich bei ihm und erklärte, warum es schnell gehen musste. Er hackte und zerrte und schnitt, so gut es mit der Spitze seines schlechten Werkzeugs ging. Das Fell würde er mitnehmen, egal, welche Witterung es verströmte. Er würde sich ein gutes Versteck suchen und sich in diese Haut einwickeln, die ihn auch ungegerbt wärmen würde.
Obwohl er sich beeilte, brauchte er mehrere Fäuste, um das Reh zu häuten und zu zerlegen, und als er fertig war, war er zwar verschwitzt, blutverschmiert und erschöpft, aber er hatte zumindest einen vollen Bauch. Das Fell des Tiers hatte er beim Häuten in zwei große Teile zerlegen müssen. Herz und Nieren schnürte er in die beiden Fellstücke ein. Die konnte er zusammenknoten und sie sich zu den Keulen über die Schulter hängen. Er war fast am ganzen Leib blutverschmiert. Unter einer toten Kiefer fand er einen Gehstock, mit dem er Kreuch besänftigen konnte. In der anderen Hand hielt er seine Hacke, die groß genug war, um Knochen zu zerschmettern, und klein genug, um sich werfen zu lassen; das Gewicht fühlte sich gut in seiner Hand an. Durch einen Steinhagel konnte selbst ein einzelner Mensch zur Gefahr werden. Kein Tier ist sicher vor einem Menschen mit einem guten Wurfarm! Die Freude über sein Jagdglück versetzte ihn in ein leichtes Hochgefühl.
Mit den Rehkeulen und den in Haut eingewickelten Organen über den Schultern humpelte er stromabwärts. Manchmal ging er direkt im schmalen Bachbett. Seinen Gehstock nannte er Ständer. Als er weit genug weg war, machte er eine Pause und wusch das Rehfell, die Beine und auch sich selbst im Bach.
Er hatte das Fell beim Häuten in zwei Stücke zerschnitten, weil er es mit seiner groben Hacke nicht sauber von der Wirbelsäule hatte lösen können. Aber zwei Stücke waren ohnehin gut. Später würde er wahrscheinlich die Haut der Beine abschneiden und Flicken draus machen. Er kaute auf einem Bissen Rehherz herum. Normalerweise kochte man Herzen, aber so schmeckte es auch nicht schlecht. Rohes Fleisch musste man lange kauen, und am besten war es, mit kleinen Stücken anzufangen. Eistaucher mochte den Geschmack von Herz, und er kaute gerne lange darauf herum.
Weil das Bachwasser kalt war, setzte er sich ans Ufer und trocknete sich die Beine im Gras ab, bevor er sich wieder den Fellen zuwandte. Da sie ungegerbt waren, ließen sie sich nur schwer gerade schneiden. Trotzdem gelang es ihm, aus der einen Hälfte die Teile für eine grobe Weste und einen Rock auszuschneiden. Die andere Hälfte würde ihm als Umhang und Decke dienen.
Der Tag war beinahe herum, verflogen, als wäre die Sonne ein Vogel auf dem Weg nach Westen. Er musste einen Platz finden, an dem ihn die nächtlichen Jäger der Hochebene nicht erreichen konnten, und das würde nicht leicht werden. Eine Höhle, deren Eingang sich mit einem Felsen verschließen ließ, wäre schön gewesen; oder ein Baum, den niemand außer ihm erklettern konnte. Beides würde sich kaum finden lassen. Aber wo die Hochebene Risse bekam und zu den Schluchten hin abfiel, bildete sie Simse mit niedrigen Felswänden und knorrigen Bäumen, die sich unter dem beständigen Wind duckten. Wenn er vor Einbruch der Nacht eine gute Zuflucht fand, konnte er hochzufrieden mit diesem Tag sein. Doch inzwischen neigte die Sonne sich bereits weit gen Westen, und der blasse Halbmond war in leicht östlicher Richtung am Nachmittagshimmel zu sehen.
In einer Felswand, die über dem Fluss aufragte, entdeckte er einen Überhang. Es schloss sich keine Höhle daran an, sodass er zwar Wind und Wetter ausgesetzt sein würde, aber der Unterschlupf war nur von der Hälfte der Welt einsehbar, und die befand sich auf der gegenüberliegenden Seite der Großen Schlucht. Im Grunde war es eine ganz kleine Balme. Und tatsächlich hatte jemand einen Bison und ein Pferd auf die flache Wand des Überhangs gemalt. Das machte Eistaucher Mut. Er betrachtete die Bilder näher. Der Maler hatte den Tieren mit dickem Strich eine sehr hübsche, schwärzlich-rote Farbe verliehen. Bison und Pferd hatten beide die gleiche Farbe. Dorn trennte die Farben immer. Es war gut zu wissen, dass bereits vor ihm ein Mensch hier gewesen war.
Als Eistaucher zur Großen Schlucht blickte, die nur als Linie zwischen der näheren Umgebung und der gegenüberliegenden Hochebene zu erkennen war, sah er unter sich eine breite, gedrungene Kiefer, die abgebrochen und um den Bruch herum spiralförmig neu gewachsen war. Die Bruchstelle war zu einer blättergefüllten Mulde bloß liegenden Kernholzes geworden. Kletterkatzen konnten diese Mulde erreichen, aber gegen die würde er sie vielleicht verteidigen können; und nichts, was von unten zu dem Baum heraufblickte, würde ihn sehen. Um herauszufinden, ob er hinaufklettern konnte, musste er es wohl oder übel versuchen. Also kraxelte er mithilfe seines Stocks zum Fuß des Baumes hinab und blickte an ihm empor. Die Kletterpartie würde Kreuch gar nicht gefallen.