— Wir sollten gehen, sagte Eistaucher. — Elga meint, dass es so weit ist. Sie weiß schon, wer wohin gehen wird. Es ist an der Zeit für unser eigenes Rudel, und wir werden hier auf dem Überhang leben. Ihr beiden werdet uns führen, und ich bin euer Schamane.
Seine Freunde nickten, obwohl ihnen anscheinend etwas unbehaglich zumute war. Schließlich war er nur Eistaucher. Sie wussten, dass er keine magischen Kräfte besaß. Zumindest hatte er in seiner Kindheit keine besessen. Eistaucher sah, was in ihnen vorging, und er sagte:
— Ich weiß nicht, wie gut ich als Schamane sein werde. Das finde ich erst heraus, wenn ich es versuche. Ihr kennt mich beide. Ihr kennt mich schon länger, als wir Namen haben. Ich kann nicht in meinen Träumen reisen und auch nicht jenseits des Himmels. Es sprechen keine Geister mit mir oder durch mich. Ich kann die Lieder nicht singen. Ich kann keinen Kranken helfen. Aber ich sage euch eines, und damit hob er den rechten Finger vor ihren Gesichtern und fasste sie ins Auge:
— Ich kann in dieser verfluchten Höhle malen.
Moos und Falke nickten. — Das wissen wir, sagte Falke. — Wir haben es gesehen.
Niemand sonst könne malen wie er, fand Moos. Zweifellos gehörte die Höhle in seine Obhut. Sie war von Dorn und Pfeifhase an ihn übergegangen, zusammen mit den anderen Schamanendingen. Und was die Rudel betraf, sowohl das alte wie das neue Rudel der Wölfe, konnten sie während des Zehn-Zehn-Fests gemeinsam die Höhle besuchen, die Lieder singen und die Tiere im Fackelschein betrachten, wie sie es seit jeher getan hatten. Das waren große Nächte, an die man sich noch Jahre erinnerte. Solche Nächte würden den beiden Rudeln Zusammenhalt geben und die freundschaftlichen Bande zu den anderen benachbarten Rudeln aufrechterhalten. Das Löwenrudel würde sie sicher unterstützen. Ganz sicher würde Eistaucher sie in all diesen Dingen führen können. Und Dorns Flöte würde durch Eistaucher die alten Melodien spielen. Falke und Moos sahen es bereits in ihm; sie hatten es gehört; sie waren sich dessen sicher. Vielleicht gab es eine andere Sorte Schamanenmagie, die man später lernen konnte, die die alten Schamanen von einem auf den nächsten weitergaben. Irgendwann würde er das beim Jahresstöckeabgleich herausfinden. Und Heide konnte ihm auch helfen. Eine Art zu sehen, eine Art zu sein. Atme dich selbst in den Raum hinaus und beobachte, was geschieht.
— In Ordnung?, fragte Moos und sah dabei Falke an.
— In Ordnung, sagte Falke.
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Also machte Eistaucher sich spät am nächsten Tag auf die Suche nach Schiefer. Er fand ihn unten am Fluss. Es war der sechste Tag des sechsten Monats. Der Halbmond hing über ihnen am zwielichten Himmel, der zu dieser Abendzeit von einem vollen, mineralischen Blau war und sich als prachtvolles Dach ostwärts der nahenden Nacht entgegenwölbte.
— Ich bin jetzt der Schamane, sagte er zu Schiefer. — Dorn hat es mir beigebracht, und ich habe im Traum mit ihm gesprochen, als ich in der Höhle war. Er hat mir gesagt, dass ich bereit bin. Bald gehen wir in die Höhle, dann seht ihr alle, was wir dort vollbracht haben.
Schiefer nickte und musterte Eistaucher dabei genau. — Na schön. Das ist gut. Wir brauchen einen Schamanen.
Eistaucher sagte: — Aber hör mal, einige von uns wollen stromaufwärts zu der Balme am nördlichen Aussichtspunkt ziehen. Das Rudel wird zu groß, um weiter in einem Lager zu bleiben. Wir bekommen alle mit, wie du dich mit Falke streitest, und das könnte ein hässliches Ende nehmen. Es ist jetzt schon ein bisschen hässlich, und wenn ihr euch schlagt, wird es vielleicht noch schlimmer. Bei den Frauen ist es nicht anders. Sie sind noch mehr gespalten als der Rest. Deshalb ziehe ich mit Falke und Entchen und Moos und Heide und Achtlos und Rose und all ihren Kindern in die neue Balme. So sind wir immer noch nah genug beieinander, um uns gegenseitig zu unterstützen. Wir gehören immer noch alle zum Rudel der Wölfe. Ich werde auch euer Schamane sein und mich um die Höhle kümmern. Heide wird nach wie vor eure Kräuterfrau sein. Wir halten unsere Feiern weiter gemeinsam ab, wie wir es auch jetzt schon mit den Rudeln der Löwen und der Raben tun. Du bekommst also das, was du brauchst. Du hast selbst Kinder großzuziehen und ein Rudel im Griff zu halten. Das kannst du nicht, wenn Falke dir die ganze Zeit im Nacken sitzt. Ohne ihn bist du besser dran. So machen wir es. Der nördliche Aussichtspunkt ist ein guter Lagerplatz, wir hätten ihn uns schon lange für die Wölfe sichern sollen. Jetzt tun wir es, und von dort aus machen wir weiter.
Während Eistaucher das sagte, starrte Schiefer ihn die ganze Zeit finster an, und seine Kiefermuskeln spannten sich an und lockerten sich abwechselnd wie bei einer Hyäne, die auf Knochen herumkaute. Eistaucher hielt seinem Blick stand, sprach aber so friedfertig wie möglich mit ihm. Er fühlte sich friedvoll. Das hier war nichts gegen das, was ihm in der Höhle widerfahren war. Eistaucher stand es so deutlich vor Augen wie Schiefers verkniffenes Gesicht: Was im Tageslicht geschah, oben auf Mutter Erde, war alles sehr klar und einfach. In diesem Augenblick hatte er das Gefühl, dass ihn diese Gelassenheit nie wieder verlassen würde.
Eine ganze Weile lang erwiderte Schiefer nichts. Er starrte Eistaucher ins Gesicht, als versuchte er, ihn zu erkennen, als hätte er seinen Eistaucher verloren und versuchte nun, ihn in dieser neuen Person wiederzufinden. Da ihm das nicht gelang, begriff er, dass er es nun mit einem anderen Eistaucher zu tun hatte. Natürlich veränderte es einen, wenn man Schamane wurde. Schamanen wurden sonderlich, wurden verrückt. All das konnte Eistaucher an Schiefers Miene ablesen. Beinahe musste er grinsen, beinahe machte er ein Schamanengeschichten-Gesicht, oder sogar das verrückte Gesicht eines Waldmannes. Eine Waldmannmaske mit einem Ausdruck, der einen schaudern ließ.
Aber er wollte Schiefer, der inzwischen über das nachdachte, was dieser neue Eistaucher zu ihm gesagt hatte, nicht noch weiter beunruhigen. Schiefer war ein schneller Denker, weshalb er es ja auch zum Oberhaupt der Wölfe gebracht hatte. Er hatte im Laufe der Jahre viele Entscheidungen getroffen und Urteile gefällt, und während der meisten Winter unter seiner Führung hatten sie nicht gehungert, und alle waren miteinander ausgekommen. Das war eine Leistung. Dorn hatte ihn dafür respektiert.
Schließlich wandte Schiefer den Blick ab und sagte: — Ich muss mit Donner darüber reden.
Er warf Eistaucher noch einen weiteren bösen Blick zu, als fürchtete er, dass dieser ihn für seine Worte verhöhnen und darauf hinweisen würde, dass genau das Schiefers Problem sei.
Aber so dumm war Eistaucher nicht. Er sagte bloß: — Ich habe es bereits mit Elga besprochen, und sie war es, die meinte, dass ich es tun soll. Jedes Rudel wird von den Frauen gelenkt. Darin unterscheiden wir uns nicht vom Rest.
Schiefer nickte und machte dabei ein überraschtes und dankbares Gesicht.
Als Eistaucher das sah, fügte er hinzu: — Elga findet, dass du so schnell wie möglich Sternchen Verantwortung übertragen solltest.
— Sternchen ist neun Jahre alt, erwiderte Schiefer.
— Elga meint, dass das keine Rolle spielt. Sie sagt, dass manche Leute schon bereit sind, wenn sie auf die Welt kommen.
Schiefer nickte bedächtig. — Na schön. Vielleicht ist es eine gute Sache, wenn ihr dorthin zieht. So können wir die Leute vom Rudel der Mammuts aufnehmen, die gerne zu uns stoßen möchten. Das wäre gut. Aber wenn wir das machen, dann können wir euch nicht helfen, wenn ihr in Schwierigkeiten geratet. Damit meine ich, dass wir euch dann nicht wieder aufnehmen können.
— Das ist in Ordnung so, sagte Eistaucher.
69
Als er sich bei der Sommersonnenwendfeier erhob, um das Sonnenwendlied zu singen, fühlte er noch immer dieselbe Gelassenheit. Beide Teile des Rudels hatten sich zu diesem Anlass wieder zusammengefunden. Alle sahen ihn an und spürten, wie er sich verändert hatte. Er stand mit Dorns Bisonkopf vor ihnen und mit dem Mantel aus Eistaucherfedern, den Elga ihm genäht hatte, hob Dorns letzten Jahresstock in die Mittagssonne und sang.