Aber dafür ist es doch zu kalt, wandte Eistaucher ein, und ich bin müde. Ich will nicht aus der Wärme hinaus, die ich hier in diesem Loch geschaffen habe.
Keine Bange, ich sorge dafür, dass dir warm wird, versprach sein Vater. Eistaucher erinnerte sich daran, dass sein Vater genau diese Worte schon einmal zu ihm gesprochen hatte, als er ihn unterm Steinbison prustend und von Todesangst erfüllt aus dem Fluss gezogen hatte, nachdem er durch dessen dünne Eisdecke gebrochen war. Sein Vater hatte ihn an den Knöcheln nach unten gehalten und ihm auf den Rücken geklopft, als wäre er gerade zur Welt gekommen, und während Eistaucher würgte und vor Angst heulte, hatte er gelacht und gesagt, Keine Bange, Kleiner, ich sorge dafür, dass dir warm wird. Also war er es wirklich.
Eistaucher zog sich durch das Loch unter dem Felsen und schlang sein Rehfell wieder um sich. Im hellen Mondlicht leuchteten die Sterne nur schwach, und der ganze Himmel war weiß wie die Sprudelnde Spritzmilch am Sommerhimmel. Sein Vater stand über ihm, ein wenig durchscheinend, sein Kopf berührte den Himmel, und sein Gesicht lag über dem schiefen Grinsen des Mondes. Geh ein Stück mit mir, sagte er.
Soll ich meine Sachen mitnehmen?, fragte Eistaucher.
Nein, ich bringe dich vor Sonnenaufgang zurück.
Bringst du mich zu Mutter?
Ja. Dort, wo wir hingehen, ist sie auch.
Sie flogen über die Heide und in die Furchen des Landes hinab, bis zu einem tiefen Tal mit einem mondhellen Fluss. An einer engen Stelle lief der Fluss unter einem Steinbogen zwischen den Felswänden hindurch: Das war der Steinbison, die Brücke aus Fels, bei der Eistaucher als Kind in den Fluss gefallen war.
Hier hast du mich gerettet, sagte er.
Ja, sagte sein Vater.
Ich muss in der Vollmondnacht zum Rudel zurück, erklärte Eistaucher. Ich bin auf meiner Wanderschaft. Es sind nur noch drei — er blickte zum Mond auf —, drei oder vier Nächte.
Ich weiß. Deshalb habe ich dich gerade jetzt hergebracht. Schon bald wirst du wieder an diesem Ort sein. Ich wollte dich wissen lassen, dass ich hier an deiner Seite bin. Und deine Mutter auch.
Zeig sie mir.
Und dann sah er sie, wie sie auf dem Steinbogen über dem Fluss stand, während das Wasser sich unter dem schwarzen Schatten des Steinbisons mondweiß kräuselte. Sie war nackt und hielt ihm die Arme grüßend entgegengestreckt.
Mutter!, rief Eistaucher.
Davon erwachte er, und zu seiner Überraschung stellte er fest, dass sein Vater ihn in dem kurzen Augenblick, in dem er seinen Ruf ausgestoßen hatte, bereits sicher zurück unter seinen Felsen gebracht hatte. Mit seinem Schrei hatte er ihre Geister erschreckt. Dorn sagte immer, dass man ruhig mit Geistern reden musste, wenn man die Gelegenheit dazu erhielt. Lärm oder Eile mochten sie nicht; all das lag hinter ihnen, es beleidigte sie.
— Ohhh, sagte Eistaucher, der auf sich selbst wütend war. Aber dann hörte er ein Schnüffeln draußen vor dem Felsen. Etwas Großes auf Spurensuche. Vielleicht ein Bär. Jedenfalls war es zu groß, um unter den Felsen zu gelangen. Was auch immer da schnüffelte, die Spur führte es fort, und Eistaucher sank in den Schlaf zurück.
Als er erwachte, fand er ein hartes, knotiges Stück Holz in seiner Hand, das aussah, als sei es schon seit langer Zeit nicht mehr Teil eines Baums. Ein Knubbel an einem Ende verlieh ihm das Aussehen eines Löwen. Eistaucher erkannte die Einkerbungen zwischen den Schultern und dem glatten, massigen Hals. Es war ein männlicher Löwe — ein kleiner Penis lag an seinem Bauch an —, der aufrecht ging wie ein Mensch. Das Stück bedurfte nur wenig Schnitzarbeit, um die Gestalt herauszuarbeiten. Es war das Geschenk seines Vaters aus dem Traum. Löwen waren furchtlos. Er löste den Feuersteinsplitter, den er bei der Herstellung seiner Hacke abgeschlagen hatte, von seinem Rehfellgürtel. Es würde besser sein, den Splitter in einen Schaft einzusetzen, aber einen Anfang konnte er jetzt schon damit machen. Das Licht der Dämmerung reichte gerade aus, und seine Fingerspitzen waren gerade warm genug für die Arbeit, die er auf der Seite liegend, Holz und Splitter direkt vor seiner Nase, verrichtete. Die gezackte Spitze des Splitters war fast wie ein kleiner Stichel. Er schnitzte vor sich hin, wobei er tief ins blutleere weiße Fleisch seiner Fingerspitzen starrte, in denen der Splitter Abdrücke hinterließ, die erst wieder verschwanden, als er darüberrieb. Kreuch summte schläfrig vor sich hin, Spucke pulsierte im Rhythmus seines Herzens, aber nur direkt unterhalb der verletzten Haut, fast schon außerhalb seines Körpers, nicht in seinem Innern. Diese beiden waren keine Freunde, er durfte ihnen keine Beachtung schenken. Was einem wehtut, muss man vergessen. Der Löwe trat sehr hübsch aus dem Holz hervor.
Als die Sonne drei Fäuste über dem Horizont stand, kroch er unter seinem Felsbrocken hervor, wanderte westwärts über den harten Schnee der Heide und erreichte einen niedrigen Höhenrücken, von dem aus er weiter nach Westen blicken konnte. Sein Volk lebte im Süden, an der Mündung des Obertals, wo der Steinbison sich über die Urdecha spannte. In drei Nächten erwartete man ihn im Lager. Bis dahin konnte er von toten Beeren leben, und außerdem hatte er seine Rehfellweste, seinen Rock, seinen Mantel und die Reste seiner Unterkleidung aus Zedernrinde. Jetzt war es also an der Zeit, sich um einen würdigen Abschluss seiner Wanderschaft zu kümmern. In Gedanken sagte er sich auf, wie er seine Geschichte erzählen würde: die Nacht draußen im Unwetter, der gescheiterte Versuch, Feuer zu machen; der nächste Morgen, an dem er ein Feuer aus dem Nichts entfacht hatte, während noch immer das Unwetter getobt hatte; die Pracht des Feuers; der gegrillte Fisch und die Zwiebeln; wie er das von den Bären getötete Reh gesehen hatte, wie sie um ihr Fressen gekämpft hatten; wie die Löwen ihn gejagt hatten; wie ihm seine toten Eltern im Traum erschienen waren; die katastrophale Begegnung mit den Alten, die Ankunft von Kreuch und Spucke, seine Flucht; die Zeit im Baumnest; die Zeit unter einem Felsen in der Heide.
Jetzt musste er der Geschichte ihren Höhepunkt verleihen: die Vision. Hier oben in den Senken der Heidelandschaft fanden sich kleine Beifußzweige und eine bestimmte Art von altem Bison-Dung, nicht zu frisch und nicht zu trocken, auf dem kleine graue Pilze wuchsen, die man Hexenmützen nannte. Er streifte umher, sammelte einige der Zweiglein und Hexenmützen und steckte sie in seine Gürteltasche. Beides würde er am Morgen vor seiner Rückkehr essen. Davon würde Dorn unweigerlich beeindruckt sein. Die Pilze schmeckten bitter, und am besten spülte man sie mit einem großen Schluck Wasser herunter. Anschließend musste man einen Aniszweig kauen und sich darauf einstellen, dass man etwa eine Faust später würde kotzen müssen. Eistaucher berührte eine der Hexenmützen mit der Zunge, und bereits das genügte, um ihm einen Schauer durch die Kehle und bis hinunter in Pimmel und Arschloch zu jagen. Es schüttelte ihn. Diese Wanderschaft war ohnehin schon nicht leicht gewesen. Sollte er es wirklich tun? Machte er es sich damit vielleicht zu schwer? Er wollte ja nicht mal Schamane werden, das war Dorns Idee gewesen. Eigentlich hätte Eistauchers Vater bei Dorn in die Lehre gehen sollen. Heide hielt nichts von Dorns Plänen für Eistaucher. Wenn seine Eltern nicht gestorben wären, dann hätte Dorn ihn niemals zu sich genommen. Als Junge war er weitab vom Lager unterwegs gewesen, war draußen in den Schluchten ganz in die Tierwelt versunken und hatte für Heide nach Kräutern gesucht. Nach dem Tod seiner Eltern wäre er beinahe ein Wolfskind geworden, von den Wäldern selbst großgezogen, als hätte ihn ein Waldmann entführt. Wann immer er Pferde sah, folgte er ihnen, sie waren sein Tier, ihre Schönheit verzückte ihn. Heide hatte ihn ins Lager zurücklocken müssen, genau wie sie ihre Lagerkatze zurücklockte. Am Feuer war Dorn nie auf Eistaucher aufmerksam geworden, und Eistaucher erinnerte sich nie an irgendwelche Gesänge aus Dorns Liedern. Nichts von alledem wäre geschehen, wenn sein Vater nicht gestorben wäre.