Ihm blieb nichts übrig, als dem Pfad zum Aussichtspunkt über der Großen Schlucht bis zu seinem unteren Ende zu folgen. Dabei traf er schließlich auf den Weg, der von der Gewundenen Au aus an der Nordseite des Tals entlang verlief. Den wollte er allerdings nicht nehmen, weil er dort zu gut sichtbar war. Stattdessen ließ er sich in eine kleine Spalte im Fels hinab, die er von früher kannte, einen mit Sträuchern zugewachsenen Riss, durch den er auf Händen und Knien kriechen musste, um unter den tiefsten Ästen hindurchzugelangen. Bald erreichte er einen Sims oberhalb der eigentlichen Felswand, und dort, wo der Sims schmaler wurde und schließlich mit der Wand verschmolz, gab es eine schmale Rampe, über die man sich auf einen weiteren, tiefer gelegenen Sims hinablassen konnte. Er war nicht zum ersten Mal hier.
Am anderen Ende des zweiten Simses erreichte er den Eingang zu einer kleinen Höhle, eine vertikale Kerbe im weißen Gestein. Ja, hier kannte er sich aus. Zum ersten Mal war er mit seinem Vater hier gewesen. Ein Stück weit konnte man durch die Kerbe kriechen, den Rest musste man mit einem Sprung hinab auf eine kleine Plattform zurücklegen. Dahinter war die Höhle unglücklicherweise bodenlos, ein Loch, das sich in der Schwärze verlor. Durch einen Spalt hinter dem Loch rann etwas Wasser hinab.
Sein Vater hatte ihm die Höhle zur Warnung gezeigt: Das Loch darin führte direkt zum Fluss. Das hatte Eistauchers Vater herausgefunden, indem er ein Zeichen in eine Walnuss geritzt und sie in die Finsternis hinabgeworfen hatte. Später hatte er die Walnuss dann unten im Fluss gefunden, wo sie sich in einem kleinen Strudel drehte.
Jetzt saß Eistaucher im Dunkeln hinter einem Felsen auf der Plattform. Von hier aus konnte er die Höhlenöffnung im Blick behalten, durch die er eine Aussicht auf die Südwand der Großen Schlucht hatte, deren Mondweiß von Flechten und weiteren Simsen gebrochen wurde. Am schwarzen Himmel darüber waren nur vereinzelt blasse Sterne zu sehen, überstrahlt vom milchigen Mond. Die Nacht war noch jung.
Hinter und über ihm, auf dem oberen Sims, erklang ein Klappern. Eistaucher, der jetzt zitterte und sich fühlte, als wäre er von einer Biene gestochen worden, kroch an das Loch am Rande der Plattform und griff hinein. Die Wand des Lochs war feucht, aber durchbrochen. Vorsprünge standen heraus, auf denen man Fuß fassen konnte. Es ließ sich unmöglich sagen, was sich sonst noch dort unten befinden mochte. Doch jetzt hörte er ein Schnüffeln vom zweiten Sims, vor der Höhle, also ließ Eistaucher sich mit den Beinen voran in das Loch gleiten und stellte sich mit beiden Füßen auf den Vorsprung, den er ertastet hatte. Er drückte die Zehen an den Fels darunter, tastete ihn sorgfältig ab. Jetzt war Spucke sein bester Kundschafter, weil er nämlich selbst in der Kälte noch empfindlich war. Weiteres Geschnüffel von oben trieb Eistaucher zur Eile an. Er fand einen weiteren Vorsprung, der ihm Halt bot, umklammerte ihn mit aller Kraft und ließ sich weiter in das Loch hinab. Er musste sich die Position all dieser Vorsprünge merken, also schloss er die Augen und malte sich in Gedanken auf, wo sich die beiden befanden, von denen er bisher wusste. Dann ließ er die Zehen des rechten Fußes an der Wand hinabwandern, auf der Suche nach einem weiteren Halt. Er fand einen, jedoch etwas zu weit unten; wenn er sich mit dem rechten Spann daraufstellen wollte, musste er sein linkes Bein so weit beugen, dass sein Knie oberhalb seiner Hüfte wäre. Das war nicht gut, und sein Knöchel tat so weh wie schon lange nicht mehr, aber er beachtete den Schmerz nicht und suchte nach einem tieferen Griff für seine Hand. Wenn er einen weiteren guten Halt fand, dann konnte er den linken Fuß von dem Vorsprung nehmen und sich einen tieferen Punkt suchen, um ihn abzustellen. Blind tastend fand er einen Spalt, einen guten Spalt; wenn er darin die Faust ballte, blieb sie stecken, so fest er auch zog. Das war ein Halt, den er ganz nach Belieben vergrößern oder verkleinern konnte, also ließ er den Fuß tiefer gleiten und suchte mit ihm weiter unten in der Nähe seines anderen Fußes die Wand ab. Schließlich stellte er fest, dass beide Füße bequem auf denselben Vorsprung passten, der ihm nun eher wie ein Felssims vorkam.
Inzwischen war er schon ein gutes Stück in das Loch hinabgestiegen. Selbst von der kleinen Plattform aus würde man ihn nicht mehr sehen können, es sei denn, das Ding, das ihn jagte, konnte im Dunkeln sehen. Oder ihn riechen. Ein Löwenkopf auf einem Menschenkörper, mit Eulenaugen und einem Geweih: Es ließ sich unmöglich sagen, wie gut dieses Ding wittern konnte. Erneut durchfuhr ihn das Bienenstichgefühl des Entsetzens, als ihm das Bild des Wesens vor Augen trat, wie es zu ihm aufgeblickt hatte. Aber selbst wenn es ihn roch, selbst wenn es ihn in der völligen Finsternis sah, würde es in dieses Loch herabklettern? Konnte es ohne Finger, mit Pfoten an den Vorderbeinen, überhaupt klettern? Vielleicht nicht. Das war seine einzige Hoffnung. Auf den Innenseiten seiner Lider konnte er den Weg zurück nach oben sehen, links, rechts, links, rechts. Er wollte nicht noch weiter hinabsteigen. Vielleicht würde er es trotzdem tun, wenn das Ding am Rande des Lochs herumzuschnüffeln begann. Doch er hörte nichts außer seinem eigenen Atmen und dem Klopfen seines Herzens hinten in der Kehle. Es ließ sich unmöglich sagen, was der eulenäugige Löwenmann gerade tat. Wenn er nicht noch dazu eine Bärennase hatte, hatte er vielleicht einfach seine Spur verloren. Löwen jagten in erster Linie mit den Augen, und Eulen auch.
So hing Eistaucher dort. Ihm wurde kalt, und seine Beine wurden steif. Er spürte seine Füße nicht mehr, abgesehen von dem leichten Brennen, das Spucke verursachte. Er ließ mit der rechten Hand los, um vorsichtig seinen Rehfellumhang von seiner Hüfte zu lösen und ihn sich über Kopf und Schultern zu legen. Langsam bewegte er den Körper auf und nieder, auf und nieder. Immer wieder wechselte er die Hand im Faustspalt, wenn er sich dort nicht mehr halten konnte. Im Geiste rief er den dritten Atem um Hilfe an. Aber der traf immer spät ein, wenn überhaupt. Er rieb sich an dem dunklen, rauen Felsgestein. Er befand sich unten in einer Höhle. So klein sie auch sein mochte, es handelte sich trotzdem um einen Mutterleib aus Erde, einen Übergang in die Geisterwelt. In deren bemalten Höhlen sah man die Tiergeister tanzen, wenn man die Hand durch die Wände in die Unterwelt drückte. Er versuchte, sich vorzustellen, dass es hier genauso sei, aber in Wirklichkeit befand er sich in einem kalten Loch am hinteren Ende einer kleinen Höhle aus weißem Fels, einem Loch, vor dem ihn sein Vater gewarnt hatte. Es war zu kalt für einen Mutterleib, zu kalt, um ihn auf der anderen Seite wieder zu gebären. Er konnte sich nur festklammern und durchhalten.
In der Finsternis vor ihm verwandelte sich das eckige Gitter roter Punkte langsam in Schnörkel, in Flecken, in Seitenansichten von Bison und Mammut und Pferd und Steinbock, die ihm alle so deutlich vor Augen standen, als hätte man sie von einem sonnigen Grat hierher versetzt. Seine Brüder und Schwestern. Vielleicht hatte er hier in diesem Loch die Wand durchdrungen. Andererseits erschienen ihm die drei Stellen, an denen er sie berührte, noch immer wirklich. Es kam ihm vor, als hielte er drei kalte Hände umklammert, die ihn ihrerseits festhielten, während er im sternenleeren Himmel der Tiergeister schwebte. Pulsierend trieben sie vor ihm dahin.
Seine Kraft schwand. Ich hielt ihn eine ganze Weile an der Wand des Loches fest.
Etwa zwanzigzwanzigzwanzig Atemzüge später schien es oben heller zu werden. In die Schwärze schien sich nun ein klein wenig Weiß zu mischen, wie ein Tropfen Blut in einem Fluss. Bald folgten weitere helle Tropfen, und dann kam auch etwas Farbe hinzu, das Grau erinnerte nun an die Farbe des Bluts in seinen Lidern, wenn er die Augen fest zukniff. Als er den Kopf herumdrehte, meinte er, das Rinnsal zu sehen, das hinter ihm an der Wand hinablief.