Ah, ja: Er erinnerte sich an den Weg nach oben. Erst der Vorsprung, bei dem er das Knie über die Hüfte heben musste, um ihn mit dem linken Fuß zu erreichen; dann der Handgriff; dann der höhere Tritt; und dann konnte er nach einem Vorsprung am Rande des Lochs fassen, den anderen Arm vorstrecken und die Finger in die Spalten auf dem Höhlenboden stecken wie Zedernwurzeln. Und sich hochziehen, hochziehen in die Faust vor Sonnenaufgang. Auf den Sims hinauskriechen und in die graue Schlucht hinabblicken. Sie war leer, abgesehen vom vereisten Fluss, der sich wie ein gewaltiges Lebewesen unter einer Decke aus Eis und altem Schnee durch sie hindurchschlängelte. An diesem stillen Morgen waren die schwarzen Spuren glatt. Nichts sonst regte sich. Ein Eichhörnchen führte Selbstgespräche; nichts Großes und Schreckliches konnte an einem solchen Morgen auf der Pirsch sein. Der Himmel hatte seine Sterne eingebüßt und war von dem Grau, das entweder aus Wolken oder aus klarer Luft bestehen konnte, in diesem kurzen Moment, bevor sich das eine vom anderen unterscheiden ließ.
Ein rosiger Hauch unten in der Schlucht ließ erahnen, dass die Sonne bald aufgehen würde. Mit einem Mal erkannte er, dass der Himmel klar war, wolkenlos. Eistaucher ballte die rechte Faust, mit der er sich die meiste Zeit über festgehalten hatte, und spürte das Ächzen ihrer Muskeln. Er streckte und bewegte die Finger, verdrehte die eine Hand mit der anderen. Mit dieser Rechten hatte er die Nacht überlebt. Und als das Tageslicht heller wurde, kam es ihm zunehmend unwahrscheinlich vor, dass der Löwenmann mit den Eulenaugen noch unterwegs sein sollte; oder dass es ihn überhaupt geben sollte. Obwohl er in der Nacht eindeutig existiert hatte.
Jetzt, wo er sehen konnte, erschienen ihm die Simse, über die er in die Höhle gelangt war, beunruhigend schmal. Mit seinen steifen Gliedern kroch er über sie hinweg wie eine Eidechse, ein roter Wassermolch, jede Hand und jeden Fuß sorgfältig setzend. Dann kletterte er die zugewucherte Spalte zum Rand der Schlucht hoch. Von dort konnte er zum Pfad zurückkehren und seinen Marsch ins Obertal fortsetzen. Er musste sich auf dem Weg zum Lager den ganzen Tag Zeit lassen, damit er nach Einbruch der Dunkelheit zurückkehren konnte, bei Vollmond. Das war viel Zeit. Er wusste genau, wo er sich befand.
Das Tageslicht vertrieb seine nächtlichen Ängste. Die Luft war kühl und klar. Überall auf der Haut, in seinen Muskeln und Knochen, verspürte er ein Kribbeln. Die Bäume trieben vor seinen Augen ihre Blätter aus, und die Farben des Tages strömten immer strahlender auf ihn ein. Eine Brise ließ alles in der Luft auf und ab wippen, und in seinem Innern tat sich etwas auf. Er wusste, dass er überleben und zum Mann werden würde, einem Mann auf dieser Mutter Erde, die so groß und so schön war. Ja, es gab dort draußen auch Schrecken, wohl wahr, aber der heutige Tag war etwas Gewaltiges, er war größer als jeder Schrecken. Er hatte das Gefühl, als sammelten sich in seiner Brust Wolken wie vor einem Gewitter. Eichhörnchen priesen den Tag mit ihrem Keckern und Zirpen, und das Wasser des Obertals gurgelte und spritzte durch sein eisiges Bett, an dessen Rand das sonnenbeschienene Moos sich frühlingsgrün und saftig vom alten Schnee abhob.
Als er an einem Rinnsal aus Schmelzwasser vorbeikam, hockte er sich zum Trinken hin, und Kreuch gesellte sich zu ihm. Kreuch hatte schlechte Laune. Nach dem letzten Sims hatte Eistaucher Ständer wieder an sich genommen, und jetzt diente er ihm zusammen mit einem weiteren Gehstock, den er auf dem Weg aufgelesen hatte, als Verlängerung der Arme. Er war wieder zu einem vierbeinigen Tier geworden, mit sehr langen, zweigelenkigen Vorderbeinen. Das kalte Schmelzwasser schwappte in seinem leeren Bauch und besänftigte das Kribbeln in seinem ganzen Körper, bis er sich wieder treiben lassen, faul wie ein Leopard einhergehen konnte, dem Auf und Nieder der Steine unter seinen Füßen folgend. Er bewegte sich so langsam, dass er sich eigentlich überhaupt nicht bewegte, und das Blau des Himmels wogte hoch über ihm und stieg immer höher, wurde immer blauer. Alle Wolken dieses Tages waren in seinem Innern.
Es war ein Tag für Tiere. Um den vierzehnten Tag des vierten Monats wurden die Tage schnell länger, die Sonne stand höher am Himmel, die Frühlingswärme vergoldete die Luft der Welt. Wo noch Schnee lag, schmolz er nun. An einem solchen Tag fühlte sich jedes Wesen gut, alle kamen heraus, um Nahrung zu suchen und sich umzuschauen. Auf den Pelzen der Tiere war der Glanz der Götter zu sehen, die in ihrem Innern wohnten.
Auf seinen vier Beinen stieg Eistaucher ein wenig benommen ins Tal hinab. Im Obertal gab es einen schmalen Weg, der oberhalb des mit Erlen zugewucherten Bachbetts und unterhalb der felsigen, verschneiten Talwand verlief. Zu diesem Weg stieg Eistaucher hinab, er schwebte nach unten. Dort angekommen, setzte er sich hin und machte Rast, und er spürte, wie Mutter Erde sich unter ihm drehte, wie der Boden sich mit ihrem Atmen hob und senkte. Der schmale Weg war größtenteils grasbewachsen, und dort, wo Seitenbäche über ihn hinwegplätscherten, von dunkelgrünen Seggen- und Moosstreifen durchzogen. Jedes Wesen, das auf dem Weg ins Tal war oder von dort aufstieg, kam hier entlang, und an matschigen Stellen sah Eistaucher alle möglichen Huf- und Pfotenabdrücke.
Um Mittag erreichte er eine weite, offene Ebene, eine Wiese, auf der der Bach sich verlangsamte und durch grasgrünes Schilf schlängelte. Eistaucher hielt sich an die östliche Talwand, die hier aus versetzten Felshängen bestand, mit Bäumen auf den Simsen dazwischen. Hier fühlte er sich sicher, und als eine kleine Bisonherde am oberen Ende der Wiese auftauchte und sich auf den Weg stromabwärts machte, versteckte er sich hinter einem Baum, um sie zu beobachten. Sie wirkten vorsichtig und schreckhaft, als würden sie gejagt, und schon bald waren sie wieder außer Sicht. Der Bison war Dorns Tier, was passte, weil Bisons genauso eingebildet und selbstgerecht waren wie er.
Jetzt herrschte wieder Ruhe im Tal, und die Eichhörnchen keckerten und sausten umher. Am Himmel zog ein Falke faul seine Kreise, einer der wenigen Vögel, die so früh im Jahr schon hier waren; er flog weit über den Fichtenwipfeln, nur scheinbar zu hoch zum Jagen. Manchmal stießen Falken von so weit oben auf ihre Beute herab, dass man sie erst als Punkt sah, wenn sie sich bereits im Sturzflug befanden. Ein stiller, warmer Nachmittag, nicht so klar, wie der Morgen es gewesen war, aber immer noch beinahe wolkenlos. Eistauchers Magen zog sich zusammen, und er fühlte sich etwas schwach. Das Gefühl zu schweben rührte nun weniger von Erleichterung her, sondern mehr von seiner Benommenheit. Mit jedem Herzschlag wichen die Bäume zurück, um dann wieder näher zu kommen, und eine Wolke von Bienen um ihren Stock warnte ihn mit lautem Brummen, dass er sich besser nicht an ihrem Honig vergehen sollte. Obwohl, ein kleines bisschen Honig … wenn er einen Stein nach dem anderen warf, die Bienen wegscheuchte, den hohlen Baum aufbrach, Wasser auf sie spritzte und sie ausräucherte … aber nein. So etwas ging wirklich nur mit Rauch. Alles andere würde sie nur wütend machen, sodass der ganze Schwarm ihn attackieren würde, wie es ihm schon einmal passiert war. Und wenn zu dem Summen in seinem Inneren auch nur ein einziger Bienenstich hinzukam, würde er aus der Haut fahren.
Bedauernd ließ er den Bienenstock hinter sich und setzte seinen Weg stromabwärts fort, langsamer, als das Wasser durch die Wiese floss. Als der Bach die Wiese hinter sich gelassen hatte und einen bewaldeten Hang hinabrauschte, bewegte er sich von Baum zu Baum, wobei er dann und wann an einem Stamm ausruhte, wie an einen Freund gelehnt. Sie stützten ihn, wie Freunde es taten.
Die Nachmittagsschatten wurden allmählich länger. Inzwischen war er dicht genug bei der Balme seines Rudels, um anzuhalten und unter einen Baumstamm zu kriechen. Mit einem Mal holten seine schlaflosen Nächte ihn ein, und er konnte die Augen nicht mehr offen halten. Er hoffte nur, dass nichts Hungriges durch das Tal kommen würde, während er schlief. Selbst wenn man zwanzigzwanzig Tage unterwegs ist, kann man auf den letzten Metern immer noch Mist bauen. Aber jetzt war es zu spät, er konnte sich der Müdigkeit nicht erwehren. Schlaf mit einem offenen Auge.