Als er erwachte, war es nur eine Faust über Sonnenuntergang. Er zog sich hoch und wischte mit den Händen Laub und Erde von sich. Dann ging er an den Fluss und wusch sich das Gesicht. Dabei fiel ihm ein Brocken Erdblut im Wasser auf, den er erfreut herausfischte. Wenn er mit einem festeren Stein darüberkratzte, konnte er aus ihm genug Rot für eine Gesichtsbemalung gewinnen. Seine Halskette aus Rehzähnen hatte er noch immer und sein Stück Wurzelholz, aus dem er einen Löwenmenschen geschnitzt hatte, der ihm nun bei näherer Betrachtung einen kleinen Schauer über den Rücken jagte; und auch seine Kleider und seinen Umhang aus Rehfell. Mit dem Erdblut würde er Punkte auf seinen Umhang tupfen und auf seine Wangen und seine Stirn. Ein Leopardenmuster, das bei seinem Einzug ins Lager Eindruck machen würde. Er würde abgemagert, geschwächt und verletzt sein, aber eingekleidet und nicht krank. Am Leben. Er dachte darüber nach, Ständer und seinen anderen Stock wegzuwerfen; aber dann hätte er humpeln müssen, weil Kreuch sich inzwischen bei jedem einzelnen Schritt lautstark beschwerte. Wenn er wollte, konnte er die Stöcke immer noch kurz vor seiner Ankunft fortwerfen und sich auf den letzten paar Metern zwingen, nicht zu humpeln.
Im letzten Sonnenlicht überquerte er die Gewundene Au und stieg langsam den Gewundenen Berg hinauf. Von oben konnte er in die Talschüssel hinabsehen, in der seine Leute wohnten, und über den Strom der Großen Schlucht bis hin zu den umliegenden Höhenzügen blicken, sah die Sonne unter- und den Mond aufgehen. Das Lager befand sich dort unten, unter der Balme am Fuß des Höhlenberges. Bei Einbruch der Nacht konnte er einfach hinuntergehen. Es fügte sich alles zusammen, so, wie er es sich in den schlaflosen Nächten seiner Wanderschaft zurechtgelegt hatte. Als er hinabblickte, sah er den Rauch des Lagerfeuers, der sich zwischen den Bäumen emporkräuselte. Ah, ja!
In diesen letzten Augenblicken des Tages, als das Sonnenlicht schräg durch die Schlucht auf den Fluss fiel, regte sich etwas auf dem von ihm aus gesehen ersten Grat Richtung Westen. Er sah, dass es sich um ein schwarzes Pferd handelte, das dastand und sich umblickte. Das heilige Tier, das schönste aller Tiere.
Das Pferd stand alleine und betrachtete genau wie Eistaucher den Sonnenuntergang. Eistaucher nahm das Stück Erdblut aus seiner Gürteltasche und kratzte mit den Fingernägeln über die Oberfläche, bis ein paar Flocken davon in seine Handfläche fielen. Er spuckte darauf und zerrieb sie zu einer Paste, mit der er sich Streifen auf die Stirn und unter die Augen malte. Dann verneigte er sich vor dem Pferd, und das Pferd erwiderte die Verbeugung, hob seinen Kopf und senkte ihn wieder, heben und senken. Die Sonne strahlte das Gottestier fast von unten an. Ein langer, schwarzer Kopf, so wohldefiniert, so grazil. Im Namen des Landes bezeugte es das Ende von Eistauchers Wanderschaft. Einmal scharren, dann heben und senken. Es warf seinen Kopf von einer Seite auf die andere, während es Eistaucher aus dunklen Augen beobachtete, zwischen ihnen die weite Leere. Seine schwarze Mähne war kurz und stand aufrecht, sein schwarzer Leib gewölbt und stark.
Und dann, ohne Warnung, warf das Pferd den langen Kopf zurück, hoch und der Sonne entgegen, und diese Bewegung trat so deutlich aus der trennenden Leere heraus, brannte sich so in seine Augen ein, dass er die Lider schließen und sie erneut sehen konnte; Eistauchers Augen quollen über, ihm liefen die Tränen übers Gesicht, und Kehle und Brust schnürten sich ihm zu. Bebend legte er sich die Hand aufs Herz. Das Pferd wandte sich ab und galoppierte in langen Sätzen hinter den Grat außer Sicht. Ein letztes Mal blitzte die Sonne auf seiner schwarzen, abstehenden Mähne auf. Eistaucher wandte den Blick ab. Noch immer musste er die Tränen fortblinzeln, und für eine Weile fürchtete er sich fast davor, erneut nach Westen zu blicken. Er kniff die Augen zu und sah, wie sich auf den Innenseiten seiner Lider alles noch einmal abspielte. Wie der Kopf den restlichen Körper in die Drehung führte, so elegant, so geschmeidig. Wie das letzte bisschen Sonnenlicht die Große Schlucht erfüllte und auf dem schwarzen Leib schimmerte wie auf Krähenflügeln. Mächtige Schultern und lange Beine.
Die Sonne berührte den Horizont und ging langsam unter. In diesem Moment leuchtete ein Fleck am östlichen Horizont in hellem Weiß auf und wurde breiter: Der Mond ging auf. Zeitgleich mit der untergehenden Sonne stieg er über den Horizont. Als Eistaucher die beiden beobachtete und zwischen ihnen hin und her schaute, hatte er das Gefühl, sich zwischen ihnen auszudehnen, und er spürte, wie der Himmel über Mutter Erde hinwegbrandete. Die Sonne ging unter, der Mond ging auf, und alles war Teil eines großen Flugs. Heute war also wirklich die Vollmondnacht.
Und als der Mond sich vom Horizont löste und am blauen Himmel hing, war ein ungebrochener, heller weißer Kranz um ihn herum zu sehen, wie es bei einem wahren Vollmond sein sollte. Als Eistaucher das klar wurde, schien sich die Welt in etwas Gewaltiges zu verwandeln, zu groß, um es zu begreifen. Ach, dass das ein Ende haben musste! Würde er je wieder so lebendig sein, würde die Welt je wieder so schön sein wie in diesem Augenblick?
Nein. Niemals. Das war unmöglich. Dies war sein Augenblick, der ihm ganz allein gehörte, das Ende seiner Wanderschaft, der Höhepunkt seiner Kreisbahn. Niemals würde dieser Moment wiederkehren. Heute war er ein Mann, der den Segen eines Pferds empfangen hatte. Morgen würde er wieder Teil seines Rudels und Dorns Lehrling sein. Was wäre dann übrig von diesem überwältigenden neuen Gefühl? Würde er sich daran erinnern können?
Das kam ihm sehr unwahrscheinlich vor. Aber es blieb abzuwarten. Er musste nach Hause zurück. Und ziemlichen Hunger hatte er auch.
In der Abenddämmerung sortierte er seine Sachen und zog die Linien in seinem Gesicht und auf seinen Handflächen nach. Mit beiden Stöcken in den Händen stieg er zum Lager hinab. Alles, was er sah, war vom Licht des Vollmonds übergossen. Im letzten Moment beschloss er, nur seinen zweiten Stock wegzuwerfen. Ständer war ihm ein zu guter Freund geworden, stabil und verlässlich. Sein oberes Ende hatte den Schweiß von Eistauchers Hand aufgesogen, und das untere war von den vielen Malen, die er ihn auf den Felsboden aufgesetzt hatte, gerade richtig gerundet. Sein Einzug ins Lager würde beweisen, wie gut er sich trotz Kreuch geschlagen hatte und dass ihn nichts bei seiner Wanderschaft hatte aufhalten können.
Fast den ganzen Abstieg über sah er das Feuer. Sie ließen es hochlodern, um ihn willkommen zu heißen. Das Bienensummen erfüllte ihn wieder, und auch in seinem Innern schien ein Feuer zu brennen, während er den Hügel hinabschwebte. Er rückte seine Kleider zurecht und hoffte, dass seine Gesichtsbemalung gelungen war. Andernfalls sah er vielleicht nur aus, als wäre er gerade gemordet worden. Aber auch das wäre in Ordnung. Er war tatsächlich gestorben und kehrte als ein anderer zurück. Dieses Gefühl war so stark, dass sie es ihm mit Sicherheit ansehen würden.
Die schwarzen Bäume, die die Krümmung der Au markierten, pulsierten vor dem Himmel, als wollten sie davonfliegen und würden von ihren Stämmen am Boden festgehalten, während sie mit allen Ästen zogen. Eistaucher selbst schwebte praktisch völlig schwerelos durch die Luft, setzte Ständer im absoluten Gleichtakt mit seinen Füßen auf, irgendwo zwischen Landen und Abheben. Mir geht es gut, sagte Kreuch zu ihm, ich tue, was immer du von mir willst, ich bin heute Abend überhaupt nicht da, mach’s gut und bis später. Zufrieden konzentrierte Eistaucher sich darauf, seinen dreibeinigen Gang möglichst geschmeidig zu gestalten, als Tanz zum Lager seines Rudels hinab. Flackernd schien das Feuer zwischen den Bäumen hindurch und versuchte, wie alles andere in dieser Nacht, davonzufliegen. Der Mond über den Bäumen war noch immer riesig und herrlich weiß um die Ränder; einen volleren Mond konnte es nicht geben. Der volle Mond des vierten Monats: Nun war es wieder so weit. Der Hungermonat war vorbei und der Sommer nicht mehr fern. Die Kaninchenfrau im Mond rührte in ihrer Schüssel mit Erdblut, mit dem sie die Morgendämmerung malen würde. Sie legte sich mit ihrem ganzen Körper in die Bewegung, und obwohl man ihren Kopf von der Seite sah, erkannte Eistaucher, dass sie nach links blickte, um seinen Weg ins Tal hinab zu verfolgen. Den kommenden Morgen würde die Kaninchenfrau wahrhaftig für ihn malen, denn sie würden die ganze Nacht wach bleiben und feiern.