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Er war mit Salbei unterwegs, bei dem Sumpf an der Stelle, an der die Edisch in die Urdecha mündete, um für Heide Kräuter zu sammeln.
Salbei, die ihren eigenen Gedanken nachhing, füllte ihren Korb nur langsam. Sie hatte lange Beine, die von einem feinen schwarzen Flaum bedeckt waren, der auf ihrer dunklen Haut beinahe unsichtbar wirkte. Ihr Hemd hing locker, und wenn sie sich vorbeugte, um ein Minz- oder Thymianzweigchen zu pflücken, waren ihre Brüste zu sehen, die wie Euter baumelten. Eistaucher summte fröhlich vor sich hin und bettelte um einen Kuss, aber sie war nicht in Stimmung. Sie sammelte grünes Moos für die Windeln der beiden Kleinkinder und auch für den nächsten Vollmond, wenn das Frauenhaus voll sein würde, weshalb Eistaucher so tat, als bemerke er nichts davon. Der Vollmond war eine seltsame Zeit, weil sich dann so viele Frauen in ihren Unterschlupf zurückzogen und unter sich blieben, während die jungen Männer Beerenmaische verschlangen und loszogen, um die Welt im blassen, aber aufschlussreichen Licht des Vollmonds zu sehen. In anderen Rudeln war das nicht so: In manchen bluteten die meisten Frauen zu Neumond und saßen in den sternenklaren Nächten gemeinsam ums Feuer gekauert, bis es vorbei war. So oder so würden sie eine Menge trockenes Moos brauchen.
Sie beobachteten, wie eine Stacheltiermutter vier kleine Stachelkugeln über ein unbewachsenes Stück Boden führte. Bären und Stacheltiere waren miteinander verwandt. Sie lebten auf ähnliche Weise und halfen einander. Otter hatten keine Verwandten, voll Bitterkeit töteten sie alles und jeden. Weiter flussabwärts rutschte eine Otterfamilie auf dem schlammigen, schrägen Uferstreifen herum, selbst ihr Spiel war bitterer Ernst. Frauen durften nicht vom Otter essen, wenn sie nicht wollten, dass ihre Kinder hektisch und unbezähmbar wurden. Einmal war Eistaucher an einem Biberteich vorbeigekommen, bei dem das Biberhaus direkt hinter dem Damm aus Baumstämmen lag. Alles hatte gut ausgesehen, aber seltsam still. Dann war neben dem Biberhaus ein Otter aufgetaucht und hatte sich gewandt aus seinen runden Augen umgeschaut, mit Blut an der Schnauze. Eistaucher war erschauert, als er sich das Gemetzel in dem runden Haus vorgestellt hatte, ein ganzes Rudel zufrieden daheim, und dann war plötzlich ein geschwindes schwarzes Etwas hereingeschwommen und hatte alle totgebissen.
Aber essen musste schließlich jeder.
Oben auf dem Grat über der großen Höhle sah Eistaucher etwas zwischen den Bäumen aufblitzen. Es war nicht rot, also kein Fuchs. Vielleicht ein Waldmann. Dann und wann tauchten sie in der Ferne auf, normalerweise in Wäldern, weshalb sie auch so hießen. Die meisten von ihnen waren glücklos, sagte Dorn immer, so glücklos, dass sie ihr Rudel verloren hatten. Weil Glück nämlich etwas Wirkliches war.
Dorn sagte immer, dass er kein Glück mehr habe und auch keine eigenen Geisterkräfte mehr, aber er habe gelernt, wie man die äußeren Geisterkräfte herbeirief, damit sie Besitz von einem ergriffen. Es sah nicht besonders angenehm aus. Manchmal seufzte er schwer, wenn er morgens aufwachte und begriff, dass es Zeit für eine seiner Geistreisen war. Dann trank er den ganzen Tag Beerenmaische und zitterte, während der Moment seiner Heimsuchung näher rückte. Oft versetzte er Eistaucher ohne jeden Grund einen Klaps auf die Ohren. Die Geister, die ihn besuchten, waren der Bisonmann, die Birkenfrau, die Farben der Nacht und ein weiterer, dessen Namen er niemals nannte. Wenn man anderen von seinen Fähigkeiten erzählte, vertrieb man die Geister dadurch manchmal, weshalb Dorn normalerweise nur zurückhaltend von derlei Dingen berichtete und sie oft auch ganz verheimlichte. Aber Eistaucher war sein Lehrling, und obwohl Dorn in dieser Beziehung nicht besonders viel von ihm hielt, musste er ihn entweder ausbilden oder sich einen neuen suchen. Eistaucher wäre froh gewesen, wenn Dorn ihn einfach aus seinen Diensten entlassen und fortgeschickt hätte. Immer wieder versuchte er, ihn so weit zu treiben, wenn auch mit wenig Hoffnung auf Erfolg. Während die Enten auf sich warten ließen und alle magerer und angespannter wurden, benahm Eistaucher sich Dorn gegenüber zunehmend unverschämt, oder er verließ einfach mehrere Tage hintereinander von morgens bis abends das Lager, wie er es als Kind so oft getan hatte. Aber Dorn war anscheinend fest entschlossen, ihn bei sich zu behalten, und letztlich gefiel es Eistaucher auch, Zeichnungen in den Stein zu kerben, Holz, Geweihe und Stoßzähne zu beschnitzen, Farben herzustellen und Bilder zu malen. Er wollte die großen Tiere in ihrer Höhle malen, wenn es für ihn so weit war. In dieser Hinsicht wollte er sehr wohl Schamane werden. Und Dorn wusste das und verwendete dieses Wissen gegen ihn. Außerdem rief er Eistaucher immer wieder ins Gedächtnis, dass man als Schamane die Möglichkeit hatte, viele Frauen aus der Nähe kennenzulernen, wenn auch nur dann, wenn sie krank waren. Eistaucher fand diese Vorstellung scheußlich. Vieles von dem, was Schamanen tun mussten, machte ihm Angst oder ekelte ihn.
Nicht nur blieben die Enten aus, eines Tages wurde die Luft sogar so kalt, dass man die Ohren der Sonne sah, und alle kehrten ins Lager zurück und begannen, sich auf einen Kälteeinbruch vorzubereiten. Jetzt war die schlechteste Zeit dafür, weil der letzte Schnee gerade schmolz und die Gänge all der kleinen Tiere zwischen Schnee und Boden geflutet waren. Es war ohnehin schon die gefährlichste Jahreszeit für alle Tiere, sehr viel schlimmer als der Winter selbst; wenn es zum Ende noch einmal Frost gab, war das ein großes Unglück. Aber der Himmel war von Raureif überzogen, und um die Sonne herum leuchteten ihre Ohren. Die Kälte kam unaufhaltsam. Jetzt war Feuerholz wichtiger als Nahrung.
Es war so kalt, dass einem das Gesicht einfror, so kalt, dass man sich den Pimmel abfrieren konnte; alle versammelten sich im großen Haus, sogar Heide.
Zwei Tage später, als überall erfrorene kleine Tiere herumlagen, wurde es wieder wärmer. Und am darauffolgenden Tag wurde es sehr warm. Sie hörten die erste Mücke, und wenn man eine Mücke hört, dann sind mit Sicherheit zehn mehr nicht weit. Schon bald würde das Eis auf dem Fluss brechen.
Sie versammelten sich auf dem Steinbison, wo sie zu beiden Seiten weit in die Große Urdecha-Schlucht hineinblicken konnten und das flache, verfärbte Eis mit den vielen Bruchstellen an den Ufern direkt unter ihnen lag. Dorn setzte seinen Bisonkopf auf und leitete die Gebete an, in denen sie den Fluss baten, sauber aufzubrechen, sodass er sich nicht aufstaute und die Gewundene Au und das Lager überflutete. So etwas war in früheren Jahren schon geschehen, und nur für den Fall, dass es erneut dazu kam, hatten alle ihre wertvollsten kleineren Besitztümer in ihren Gürteln und trugen ihre besten Kleider. Der Tag war eigentlich zu heiß dafür, so viel anzuziehen, aber schon bald würden sie im offenen Fluss schwimmen und all ihren Schweiß und ihre Bemalung abwaschen können. Es war einer der größten Tage des Jahrs. Und nachdem das Eis gebrochen war, würden auch ganz sicher die Enten kommen.
Stromauf- und stromabwärts ächzte der Fluss. Im Herbst, wenn er beim Zufrieren solche Laute von sich gab, schrie er nach seiner Schneedecke. Jetzt schrie er, weil er frei sein, weil er dahinströmen und die Sonne wieder sehen wollte. In dem tiefen Grollen und Knirschen erkannte Eistaucher eben jene Worte, die sein eigener Geist seit seiner Wanderschaft in ihm rief. Wie viele andere aus dem Rudel saß auch er auf dem Rücken des Steinbisons und ächzte gemeinsam mit dem Fluss.
Große, gezackte Schollen stiegen an den Stellen auf, wo das Eis auf dem Fluss zersplittert war, als drückte etwas, das an die Freiheit wollte, sie von unten hoch. Manche offene Stellen wurden zu Rinnsalen, in denen sich stromabwärts kleine Eisplatten sammelten. Viele Eisstücke waren an der Unterseite schwarz vom Flussschlamm. Das Grollen und Knirschen ertönte in immer kürzeren Abständen und wurde immer lauter.