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Dorn trat an Eistaucher heran. Unter seinem Bisonkopf sah er seltsam klein aus. Mit lauter Stimme sagte er zu Eistaucher: — Lass uns zusammen die Geschichte vom brechenden Eis aufsagen, hier und jetzt, während wir zuschauen.

— Nein, sagte Eistaucher, ohne nachzudenken. Er konnte das Gedicht nicht.

Dorns rechte Hand schoss vor und verpasste Eistaucher einen Schlag aufs Ohr. Es war das erste Mal, dass der Schamane Eistaucher erwischt hatte, seit er von seiner Wanderschaft zurückgekehrt war. Eistaucher heulte auf und erhob sich, um wegzugehen.

— Nein, rief Dorn, baute sich vor Eistaucher auf und deutete zu Boden. Mit Augen wie zwei kleine Sonnen fixierte er Eistaucher. — Sag es auf, jetzt, während es vor deinen Augen geschieht, und merk es dir! Merk es dir!

Nach einer Weile neigte Eistaucher den Kopf. Er rieb sich das pochende Ohr und schaute auf den steinigen Rücken des Steinbisons herab. Tja, irgendwie hatte es immer in seinem Ohr gepocht, wenn er dieses Gedicht gelernt hatte. Mit einem lauten Seufzer begann er:

Der Frost muss frieren, das Eis Brücken schlagen, Das Wasser trägt dich und verbirgt die Saat. Einer allein löst des Eises Fessel Und treibt den langen Winter aus. Es wird wieder gutes Wetter geben, Einen heißen Sonnensommer. Großes Salzmeer, tiefer Pfad der Toten, Damit du das Eis brichst, verbrennen wir Hülsdorn. Nimm ihn zurück, wir brauchen ihn nicht, Stoß die Sonne hinauf, brate die Luft, Lass unter dem Eis das Wasser rasch strömen, Flute die Auen mit geschmolzenem Schnee. Fließ Wasser fließ, füll die Schluchten füll die Schluchten, Falle, Wasser, zurück in der Sonne, den Fels herab, Falle Wasser falle. — Nein, nein, sagte Dorn. — Es heißt: Fülle Wasser fülle. Fülle Wasser fülle, Steig aus der Tiefe Schieb fort Eis und Schnee Fülle von oben Wie ein Finger im Handschuh Wie das Kind aus dem Schoß Ans Licht gepresst wird. Presse nun, presse fest Mutter Erde weiß       Mutter Erde presst Ein Zucken       ein Krampf       ein Knoten       ein Pressen. Brich Eis brich nun, Brich Eis brich nun.

Eistaucher versuchte sich zu erinnern, was als Nächstes kam. Unter ihnen stieß die tiefste Seitenschlucht ein gewaltiges Stöhnen aus, wie eine riesige Frau, die unter Schmerzen ein Kind gebar.

Mit einem Mal sprach Dorn, und Eistaucher hörte dankbar zu, weil er sich die folgenden Worte noch nie hatte merken können.

Allerdings schwenkte Dorn auf eine andere Geschichte um, eine, die Eistaucher sehr viel vertrauter war.

Eines Frühlings kam ein großes Unwetter aus dem Westen, Das die Häuser der Leute vom Fluss zerstörte. Sie banden ihre Fellboote fest zusammen Und saßen darin, als das Wasser in allen Tälern stieg Und das Land ganz und gar bedeckte. Hilflos trieben sie dahin. In der bitterkalten Nacht erfroren so manche, Und ihre Leichen fielen ins Wasser. Dann beruhigten sich Wind und See Und die Sonne brannte herab, So hell schien die Sonne, dass manche an der Hitze starben. Schließlich schlug ein Schamane mit dem Speer aufs Wasser Und rief: Genug! Genug! Lass ab von uns! Und dann warf der Mann seine Ohrringe in die See Und rief erneut: Genug! Und schon bald sank das Wasser Und bildete wieder Bäche und Flüsse Und zog sich nach Westen zurück, wo es heute noch liegt.

— Das muss ziemlich genau zu dieser Jahreszeit passiert sein, scherzte Eistaucher, als Dorn fertig war.

— Was meinst du damit?

— Ich meine, dass es keine Rolle spielte, was der Schamane gesagt oder getan hat. Das Wasser wäre ohnehin zurückgegangen, es war einfach an der Zeit.

Dorn starrte ihn an. — Wiederhole das, was ich gesprochen habe.

Eistaucher stand auf und sagte so laut er konnte:

Eines Frühlings kam ein Unwetter aus dem Westen, Das die Häuser des Volks vom Fluss zerstörte. Sie banden ihre Boote fest zusammen, Und das Wasser stieg und bedeckte alles Land. Hilflos und ängstlich trieben sie dahin. In der bitterkalten Nacht erfroren so manche, Und ihre Leichen warf man über Bord. Dann beruhigten sich Wind und See Und die Sonne kam heraus, So hell schien sie, dass manche an der Hitze starben. Und so streckte ein Schamane seinen Speer in die See Und klagte laut: Genug, genug! Und er warf seine Ohrringe in die See, Ob als Gabe oder Geschoss, wusste er nicht. Und weil das Wasser ohnehin schon sank Änderte das nichts. Das Land kehrte wieder Mit den Bächen und Flüssen wie wir sie heut kennen Und dem großen Salzmeer an seinem Platz.

Bei Eistauchers Änderungen hob Dorn voller Zorn die Faust, aber inzwischen krachte und donnerte es unter ihnen schon sehr laut, und die Geräusche klangen fast wie das Krachen und Donnern eines Gewitters am Himmel. Eistaucher hoffte, dass es eines Tages wirklich so kommen würde, dass das Eis während eines gewaltigen Gewitters brechen würde, und er hatte eine Idee für ein Gedicht, das er dann hoffentlich würde aufsagen können, falls es jemals dazu kam.

Doch dieser Moment, mit dem wolkenlosen Himmel und dem Donnern, das von unten kam, war zu Ehrfurcht gebietend, um bei Geschichten oder irgendetwas Menschlichem zu verweilen. Es blieb nichts, als stummer Zeuge zu werden. Stromabwärts zersplitterte wogend das weiße Eis, angefangen an den Außenseiten der Flussbiegungen, und trieb von dort den Fluss hinab, bis weite Teile des schwarzen, gekräuselten Wassers zum Vorschein kamen. Eisschollen lösten sich von den Ufern oder brachen auseinander und traten ihre Reise mit der Strömung an, weiße Flöße, die ineinanderkrachten und neue, gewaltige Ansammlungen bildeten, die ihrerseits weiterschwammen, bis sie schließlich gegen ein Ufer oder ein weiteres Eisfloß prallten, sich übereinanderschoben oder brachen und die Kanten dabei gen Himmel hoben. Manchmal verliefen ganze Eisdämme von einem Flussufer bis zum anderen, und hinter ihnen sammelte sich Wasser und trieb ihnen weitere Eisflöße zu, sodass sie schnell wuchsen und sich mehr Wasser aufstaute und mehr Druck ausübte, bis mit einem Tosen, das lauter war als der Donner, die ganze weiße Masse in den schwarzen, strudelnden Strom kippte. Platschend polterten die Eisschollen hinab, bis sich ein weiterer Damm verfing und sie erneut aufhielt.

Alle standen mit ausgestreckten Armen an der flussabwärts gewandten Seite des Steinbisons und beobachteten das Spektakel; alle riefen durcheinander, doch niemandes Stimme war zu hören. Selbst Heide hatte den Mund aufgerissen. Ihre Wangen waren gerötet, und sie grinste übers ganze Gesicht. Das Rudel stieß ein Wolfsgeheul aus, doch inmitten des ohrenbetäubenden Lärms war auch davon nichts zu hören. Als sich das Krachen stromaufwärts bis unter den Steinbison selbst ausbreitete, tanzten sie und umarmten einander und drehten sich herum, um stromaufwärts zu schauen, wobei sie sich sorgsam von der Kante fernhielten — jetzt hinunterzufallen wäre keine gute Idee gewesen. Und als die Risse unter ihnen zu sehen waren und sich weiter stromaufwärts fortpflanzten, heulten sie lauter denn je und konnten sich über das gewaltige Grollen der Welt noch immer nicht vernehmen.

Und dann machte jemand eine Reihe Enten am Himmel aus.