Der Sommer war da.
16
Sie waren also nicht verhungert. Sie hatten das Zwacken des Hungers verspürt, und da sie die ersten eintreffenden Enten nicht fingen, mussten sie es noch ein Weilchen länger erdulden. Sie verspeisten die letzten Winternüsse und machten sich daran, Schlingen für die in den nächsten Tagen eintreffenden Enten auszulegen. Doch das Hungern fühlte sich anders an, wenn man wusste, dass es nicht mehr lange anhalten würde: bohrender, aber auch weniger Furcht einflößend.
Nach den vier erfolgreichen letzten Wintern war ihr Rudel langsam ziemlich groß geworden. Zwei Dutzend und zwei war noch immer eine gute Zahclass="underline" nicht so klein, dass sie sich um ihre Verteidigung hätten sorgen müssen, und nicht so groß, dass sie nicht mehr genug Nahrung für alle hätten sammeln können.
Trotzdem war da die Art, wie jeder jeden kannte. Verwandtschaft, Gewohnheiten, Vorlieben, Abneigungen, Schwächen. Alles. Gerüche, Verdauung, Redewendungen. Sie kannten sich so gut, dass sie nicht mehr interessant füreinander waren. Ein Teil der Vorfreude auf den kommenden Sommer hatte mit der Aussicht darauf zu tun, endlich wieder andere Leute zu treffen.
Nachdem sie an den gemächlich fließenden Stellen des Flusses ihre Entenfallen aufgestellt hatten, zog Eistaucher mit Heide los, um ihr bei der Suche nach bestimmten Kräutern zu helfen. Manche davon wuchsen nur in feuchten Senken, und Eistaucher konnte an Stellen hinabsteigen, die für Heide mit ihren steifen Knochen unerreichbar blieben.
Heides Katze folgte ihnen in einigem Abstand. Heide hatte sie als verwaistes Kätzchen gefunden und sie durchgefüttert, aber ab einem gewissen Alter war sie ihrer eigenen Wege gegangen und kehrte inzwischen nur noch im Winter zurück, um im Lager herumzuschleichen und Essen zu ergattern. Sie hatten eine ganze Reihe von solchen Lagerdieben, größtenteils Habichte und Eichhörnchen, aber auch einen Nerz, ein paar Murmeltiere und Füchse und sogar eine in der Nähe lebende Biberfamilie, die immer wieder vom Fluss her bei ihnen einfiel.
Heide benutzte ihre Katze, um neue Kräuter zu erproben. Sie legte ihr ein Stück von ihrem Lieblingsfleisch mit einem Zweiglein einer seltsamen Pflanze darin hin, und wenn die Katze es fraß, wartete Heide ab, was passierte. Sie ging davon aus, dass die Katze an keiner Pflanze sterben würde, weil sie alles, was ihr nicht bekam, gleich wieder hochwürgte.
Wenn Heide das beobachtete, scheuchte sie die Katze weg und sah sich das Erbrochene genau an. Sie nahm sogar Klümpchen davon zwischen Daumen und Zeigefinger und berührte sie mit der Zunge.
Als sie das diesmal tat, sagte Eistaucher: — Heide, du isst Katzenkotze.
— Na und? Ich kann Geschmäcker schmecken, die mich an andere Geschmäcker erinnern, die ich kenne. Dadurch bekomme ich eine Ahnung, wie man diese Blume vielleicht anwenden kann.
— Und wenn du daran stirbst?
— Katzen haben einen sehr feinen Magen. Ich werde nicht daran sterben.
Eistaucher sagte: — Ich habe letzte Nacht von ein paar Löwen geträumt, ein kleines Rudel, das ein Bison gejagt hat.
Das interessierte Heide nicht. — Ich habe keine Ahnung von Träumen. Vielleicht sind sie eine dieser Welten, die wir nicht so gut sehen können. Wir erhaschen immer nur kurze Blicke davon. Ich weiß nicht, was wir da sehen. Es ist diese Welt, die ich kenne. Es ist diese Welt, die ich sehen möchte.
— Und deshalb isst du Katzenkotze.
— Besser, als Scheiße zu fressen.
— Natürlich, aber wer würde das denn tun?
Heide schüttelte düster den Kopf. — Wir müssen alle manchmal Scheiße fressen.
Eistaucher wusste nicht, was er darauf erwidern sollte.
Heide musterte ihn einen Moment lang und lachte dann ihr kurzes Hexenlachen. — Wenn du hungrig genug bist, isst du alles. Und wenn das Essen das erste Mal durch dich durchgeht, dann wird nicht alles aufgezehrt. Einen Teil scheißt man unverzehrt aus. Also gibt es in der Scheiße auch Nahrhaftes. Ich muss zugeben, dass ein solcher Durchgang wirklich ziemlich scheußlich ist. Man bekommt Blähungen, Durchfall, und es schmeckt wie Scheiße, das ist mal sicher. Aber man kann immer noch etwas herausholen. Das merkt man daran, dass man es wieder tut.
— Wieder?
— Nicht mit dem gleichen Zeug. Später, meine ich. Ein dritter Durchgang funktioniert nicht. Der Körper weiß das und würde das Zeug ohnehin nicht reinlassen.
— Also hattest du sonst nichts zu essen?
— So ist es. Manchmal ist der Winter hart. Stirnrunzelnd blickte Heide zum westlichen Himmel. — Härter als irgendeiner, den du jemals erlebt hättest.
Sie hob mehr von den Kräutern auf, die die Katze hochgewürgt hatte, und suchte sie nach unbeschädigten Blüten ab. — Und hoffentlich härter als jeder, den du noch erleben wirst, fügte sie hinzu. — Aber es hat den Anschein, als käme immer mal wieder ein solcher Winter.
17
Als der siebte Tag des siebten Monats nahte, begannen sie, ihre Sachen durchzusehen und zu entscheiden, was sie mit auf ihre Sommerreise nehmen und was sie hier vergraben würden. Sie würden das große Haus und das Frauenhaus flach zusammenlegen und mit großen Steinen bedecken; wenn man sie aufgebaut ließ, wurden sie nur ausgeplündert. Selbst zusammengelegt und verdeckt machten die Häuser bei ihrer Rückkehr manchmal den Eindruck, als hätten sich fremde Leute oder ein paar Klotzköpfe daran zu schaffen gemacht, während andere Male deutlich zu erkennen war, dass Bären mit den Tatzen einige der Steine weggerollt und darunter herumgeschnüffelt hatten, zweifellos angezogen von den Gerüchen. Doch da das Rudel sein Lager immer so aufgeräumt wie möglich hinterließ, würden Plünderer nichts als alte Felle zu essen finden, und obwohl hungrige Bären auch alte Felle aßen, wie sie überhaupt alles aßen, was lebte oder gelebt hatte, wurde das zusammengelegte Lager doch oft in Frieden gelassen und war so nach ihrer Rückkehr sehr viel leichter wieder aufzubauen.
Eistauchers Kleider waren gut gearbeitet und sauber. Er hatte sie selbst zusammengenäht, zugeschnitten hatte die meisten Teile allerdings Heide, die ihren eigenen Stil hatte. Eistaucher gefiel es, wie ihre Kleider sich trugen und aussahen, und wenn er an die Behelfslösungen seiner Wanderschaft zurückdachte, überkam ihn ein Wohlbehagen und er fühlte sich fein herausgeputzt.
Er trug einen Webhut aus Schilf, der eine breite Krempe gegen die Sonne hatte und sich bei Wind mit einer Schnur unterm Kinn festbinden ließ. Den hatte er selbst gemacht, und er würde ihn so lange tragen, bis er endgültig hinüber war, und sich dann einen neuen weben.
Über seiner restlichen Kleidung trug er einen gewebten Schilfumhang, dem Wasser und Sonne so zusetzten, dass Eistaucher jeden Sommer einen neuen brauchte. Wenn er ihn gerade nicht brauchte, faltete er ihn zusammen und stopfte ihn in seinen Sack, was auch nicht gerade dazu beitrug, dass der Umhang länger hielt.
Darunter kam eine Jacke aus Rentierfell, mit Krausen aus Marder- und Murmeltierpelz um die Kapuze, die Ärmel und den unteren Saum.
Untenherum trug er einen Rock aus Rehhaut, die er mit dem Fell nach innen trug, und dazu eine Schlinge aus Kaninchenfell, in der er seinen Pimmel verstecken konnte, wenn es kalt war.
Schließlich hatte er auch Beinlinge aus Rentierfell, doch die ließ er in seinem Bündel, wenn es nicht gerade bitterkalt war oder er durch ein dichtes Dornengestrüpp musste; lieber ließ er so oft es ging die Luft an seine Beine.
Oft ging er auch barfuß, aber seine Schuhe, die er auf hartem Grund oder bei langen Wanderungen trug, gehörten zu Heides besten Werkstücken. Ihre Sohlen bestanden aus Bärenfell und die Oberteile aus Rehleder, und sie waren groß genug, dass man eine Schicht dünnen Strohs oben hineinstopfen konnte, wenn man es warm haben wollte.
Über den Schultern verliefen die Fellriemen seines Rucksacks, und darin befand sich sein Feuerzeug, etwas Mulm und Zunderpilze, eine Glutschale und ein paar Bärenfellpolster für seinen Hintern. In seiner Gürteltasche trug er Feuerstein und Geweihspitzen und Nadeln, einen Stichel, ein paar Klingen, eine Quaste aus durch einen Knochenring gezogenen Lederriemen, einen Klingenschärfer und eine Sammlung von Glückskieseln und -zähnen, darunter auch die seiner Ricke.