«Ihr Entschluß steht also fest?«
«Ja. Tut mir wirklich leid, Leon. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, ich werde niemals davon sprechen, was… was passiert ist. «Er machte kehrt und verließ den Raum.
Napoleon Chotas blieb lange gedankenverloren hinter seinem Schreibtisch sitzen. Dann traf er eine Entscheidung. Er griff nach dem Telefonhörer und wählte eine Nummer.»Richten Sie Herrn Demiris bitte aus, daß ich ihn heute nachmittag aufsuchen werde. Es handelt sich um eine dringende Sache.«
Am selben Tag um 16 Uhr saß Napoleon Chotas in Constantin Demiris' Büro.»Wo brennt's denn, Leon?«fragte Demiris.
«Vorerst brennt noch nichts«, antwortete Chotas bedächtig,»aber ich wollte dir mitteilen, daß Frederick Stavros heute morgen bei mir gewesen ist. Er hat beschlossen, aus der Kanzlei auszuscheiden.«
«Stavros? Der Larry Douglas verteidigt hat? Und?«
«Er scheint Gewissensbisse zu haben.«
Längeres Schweigen.
«Oh, ich verstehe.«
«Er hat versprochen, nicht darüber zu reden, was… wie es zur Verurteilung gekommen ist.«
«Glaubst du ihm?«
«Ja. Ich habe Vertrauen zu ihm, Costa.«
Constantin Demiris lächelte.»Gut, dann haben wir nichts zu befürchten, stimmt's?«
Napoleon Chotas stand erleichtert auf.»Vermutlich nicht. Trotzdem wollte ich dich auf dem laufenden halten.«
«Du hast ganz richtig gehandelt. Hast du nächste Woche mal Zeit, zum Abendessen zu mir zu kommen?«
«Natürlich.«
«Ich rufe dich an, damit wir was vereinbaren können.«
«Danke, Costa.«
Am späten Freitagnachmittag herrschte unter den hohen Gewölben der riesigen Kapnikarea-Kirche in der Athener Innenstadt feierliche Stille. In einer Ecke neben dem Hauptaltar kniete Frederick Stavros vor Pater Konstantinou. Der Geistliche verhüllte den Kopf des Beichtwilligen mit einem Tuch.
«Ich habe gesündigt, Pater. Für mich gibt's keine Vergebung mehr.«
«Der große Fehler des Menschen liegt darin, mein Sohn, daß er sich nur für einen Menschen hält. Wie hast du gesündigt?«
«Ich bin ein Mörder.«
«Du hast ein Menschenleben auf dem Gewissen?«»Nicht nur eines, Pater. Ich weiß nicht, wie ich für meine Tat büßen soll.«
«Gott weiß Rat, mein Sohn. Wir werden ihn fragen.«»Ich bin durch Eitelkeit und Geldgier vom rechten Weg abgekommen. Das ist vor einem Jahr gewesen. Ich hatte einen wegen Mordes angeklagten Mann zu verteidigen. Er wäre vermutlich wegen Mangels an Beweisen freigesprochen worden. Aber dann hat Napoleon Chotas… «
Als Frederick Stavros eine halbe Stunde später aus der Kirche trat, fühlte er sich wie neu geboren. Er hatte das Gefühl, ihm sei eine erdrückend schwere Last von den Schultern genommen worden. Er hatte dem Geistlichen alles anvertraut und empfand nun zum ersten Mal seit jenem Schreckenstag wieder Zuversicht.
Ich fange ein ganz neues Leben an. Ich ziehe in eine andere Stadt und fange von vorn an. Ich muß es schaffen, mein Verbrechen irgendwie zu sühnen. Herr, ich danke dir, daß du mir noch eine Chance geben willst.
Inzwischen war es dunkel geworden, und der Platz zwischen Kirche und Ermoustraße war fast menschenleer. Als Stavros die Straßenecke erreichte, sprang die Fußgängerampel auf Grün um, und er wollte die Fahrbahn überqueren. Als er die Straßenmitte erreicht hatte, fuhr eine schwarze Limousine bergab und röhrte mit aufgeblendeten Scheinwerfern wie ein durchgehendes mechanisches Monstrum auf ihn zu. Stavros blieb wie vor Entsetzen gelähmt stehen. Für einen Sprung zur Seite war es bereits zu spät. Das Röhren wurde donnernd laut, und Stavros fühlte, wie sein Körper zerquetscht wurde und seine Muskeln und Knochen nachgaben. Nach einem Augenblick grausamster Schmerzen wurde es dunkel um ihn.
Napoleon Chotas war Frühaufsteher. Er genoß dieses ungestörte Alleinsein, bevor er sich den Anforderungen des Tages zu stellen hatte. Er frühstückte stets allein und las dabei die Morgenzeitungen. An diesem Morgen enthielten sie mehrere interessante Meldungen.
Ministerpräsident Themistikles Sophoulis, der mit einer Fünfparteienkoalition regierte, hatte ein neues Kabinett gebildet. Ich muß ihm ein Glückwunschschreiben schicken. Aus China wurde gemeldet, kommunistische Truppen hätten das Nordufer des
Jangtsekiang erreicht. Harry Truman und Alban Barkley waren in ihre Ämter als Präsident und Vizepräsident der Vereinigten Staaten eingeführt worden.
Napoleon Chotas blätterte um. Eine Meldung auf Seite zwei ließ ihm fast das Blut in den Adern gerinnen.
Frederick Stavros, einer der Partner der bekannten Anwaltsfirma Tritsis & Tritsis, ist gestern abend beim Verlassen der Kapnikarea-Kirche von einem Auto überfahren und tödlich verletzt worden. Berichten von Unfallzeugen zufolge soll es sich bei dem Wagen, dessen Fahrer mit Vollgas geflüchtet ist, um eine schwarze Limousine ohne Kennzeichen gehandelt haben.
Frederick Stavros hat zu den Hauptpersonen des sensationellen Mordprozesses gegen Noelle Page und Larry Douglas gehört. Er hat Douglas verteidigt und ist…
Napoleon Chotas las nicht weiter. Er saß wie erstarrt am Tisch und hatte sein Frühstück längst vergessen. Ein Unfall. War das wirklich ein Unfall gewesen? Constantin Demiris hatte ihm versichert, es gebe nichts zu befürchten. Aber zu viele Leute hatten den Fehler gemacht, Demiris' Worte für bare Münze zu nehmen.
Chotas griff zum Telefonhörer und wählte Constantin Demiris' Nummer. Eine Sekretärin stellte das Gespräch durch.
«Hast du die Morgenzeitungen schon gelesen?«fragte Chotas.
«Nein, noch nicht. Warum?«
«Frederick Stavros ist tot.«
«Was?« Demiris' Ausruf klang ehrlich überrascht.»Wie ist das passiert?«
«Frederick ist gestern abend von einem Kerl, der Fahrerflucht verübt hat, überfahren worden.«
«Großer Gott! Das tut mir leid, Leon. Haben sie den flüchtigen Fahrer schon geschnappt?«
«Nein, noch nicht.«
«Vielleicht kann ich bei der Polizei ein bißchen Druck machen. Heutzutage ist man nirgends mehr seines Lebens sicher. Wie war's übrigens mit Donnerstag zum Abendessen?«
«Einverstanden.«-»Gut, abgemacht.«
Napoleon Chotas verstand sich darauf, zwischen den Zeilen zu lesen. Constantin Demiris ist ehrlich überrascht gewesen. Er hat nichts mit Stavros' Tod zu schaffen.
Am Tag darauf fuhr Napoleon Chotas morgens in die Tiefgarage des Bürogebäudes, in dem sich seine Kanzlei befand, und stellte seinen Wagen ab. Als er zum Aufzug ging, tauchte ein junger Mann aus den Schatten auf.
«Haben Sie mal Feuer für mich?«
Bei Chotas schrillten sofort sämtliche Alarmglocken. Was hatte ein Unbekannter hier in der Tiefgarage zu suchen?
«Natürlich. «Chotas holte, ohne zu zögern, aus und schlug dem jungen Mann seine Aktentasche ins Gesicht.
Der Unbekannte stieß einen gellenden Schmerzensschrei aus.»Dreckskerl!«Aus seiner Jackentasche zog er eine Pistole mit Schalldämpfer.
«He, was geht hier vor?«rief eine Stimme. Der uniformierte Parkwächter kam auf sie zugerannt.
Der junge Mann zögerte kurz, steckte seine Waffe weg, lief die Einfahrtsrampe hinauf und verschwand.
Im nächsten Augenblick war der Parkwächter heran.»Alles in Ordnung, Herr Chotas?«
«Äh… ja. «Napoleon Chotas merkte, daß er keuchend atmete.»Danke, mir fehlt nichts.«
«Was hat der Kerl vorgehabt?«
«Schwer zu sagen«, antwortete Napoleon Chotas langsam.
Es könnte ein Zufall gewesen sein, sagte Chotas sich, als er an seinem Schreibtisch saß. Möglicherweise hat der Mann mich nur berauben wollen. Aber ein Straßenräuber benutzt keine Pistole mit Schalldämpfer, Nein, er wollte mich erschießen. Und Constantin Demiris hätte die Nachricht von seinem Tod mit ebenso gespieltem Entsetzen aufgenommen wie die von Frederick Stavros' tödlichem Unfall.
Das hätte ich wissen müssen! dachte Napoleon Chotas. Demiris ist kein Mann, der unnötige Risiken eingeht. Er kann es sich nicht leisten, Mitwisser zu haben. Nun, jetzt steht ihm eine Überraschung bevor.