Aus der Gegensprechanlage auf seinem Schreibtisch kam die Stimme seiner Sekretärin:»Herr Chotas, in einer halben Stunde müssen Sie zur Verhandlung.«
Heute sollte Chotas sein Plädoyer zugunsten eines Serienmörders halten, aber er war zu mitgenommen, um vor Gericht aufzutreten.»Rufen Sie den Vorsitzenden Richter an und entschuldigen Sie mich wegen Krankheit. Einer der Partner soll mich vertreten. Und noch was — heute keine Anrufe, keine Besucher.«
Er holte ein Tonbandgerät aus einem Wandschrank, stellte es auf den Schreibtisch und blieb nachdenklich davor sitzen. Dann begann er zu sprechen.
Am frühen Nachmittag erschien Napoleon Chotas mit einem versiegelten braunen Umschlag unter dem Arm im Büro des Staatsanwalts Peter Demonides, dessen Vorzimmerdame ihn sofort erkannte.
«Guten Tag, Herr Chotas. Was kann ich für Sie tun?«
«Ich möchte Herrn Demonides sprechen.«
«Er ist in einer Besprechung. Haben Sie einen Termin?«
«Nein. Sagen Sie ihm bitte, daß ich hier bin — und daß es sich um eine dringende Sache handelt.«
«Ja, natürlich.«
Eine Viertelstunde später wurde Napoleon Chotas ins Büro des Staatsanwalts gebeten.
«Sieh da«, sagte Peter Demonides,»der Prophet kommt zum Berg! Was kann ich für Sie tun? Vermute ich richtig, daß Sie mir im Fall Kleanthes einen Handel vorschlagen wollen?«
«Nein. Ich bin in einer persönlichen Angelegenheit hier, Peter.«
«Nehmen Sie Platz, Leon.«
Als die beiden Männer saßen, fuhr Chotas fort:»Ich möchte diesen Umschlag bei Ihnen hinterlegen. Er ist versiegelt und darf nur geöffnet werden, falls ich tödlich verunglücken sollte.«
Peter Demonides musterte ihn neugierig.»Rechnen Sie denn mit dieser Möglichkeit?«
«Möglich ist alles.«
«Aha. Einer Ihrer undankbaren Klienten?«
«Die Person tut nichts zur Sache. Sie sind der einzige, zu dem ich Vertrauen habe. Können Sie den Umschlag sicher verwahren?«»Selbstverständlich. «Demonides beugte sich vor.»Sie sehen aus, als hätten Sie Angst.«
«Das habe ich auch.«
«Wollen Sie, daß wir etwas für Sie tun? Ich könnte veranlassen, daß Sie unter Polizeischutz gestellt werden.«
Chotas tippte auf den Umschlag.»Dies ist der einzige Schutz, den ich brauche.«
«Gut, wenn Sie sich Ihrer Sache sicher sind…«
«Das bin ich. «Chotas stand auf und streckte die Hand aus. »Efcharisto, Peter. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin.«
Peter Demonides lächelte. »Parakalo, Leon. Jetzt schulden Sie mir einen Gefallen…»
Eine Stunde später betrat ein uniformierter Bote Constantin Demiris' Vorzimmer im Gebäude der Hellenic Trade Corporation. Er wandte sich an die Chefsekretärin.
«Ich habe ein Paket für Herrn Demiris.«
«Das können Sie mir geben. Ich werde den Empfang quittieren.«
«Ich habe den Auftrag, es nur Herrn Demiris persönlich zu übergeben.«
«Tut mir leid, ich darf ihn jetzt nicht stören. Von wem ist das Paket denn?«
«Napoleon Chotas.«
«Und Sie können es nicht einfach dalassen?«
«Nein, das darf ich nicht.«
«Gut, ich frage mal nach, ob Herr Demiris es entgegennehmen will.«
Sie drückte auf die Sprechtaste ihrer Gegensprechanlage.»Entschuldigen Sie, Herr Demiris, hier ist ein Bote mit einem Paket von Herrn Chotas.«
Aus dem Lautsprecher drang die Stimme ihres Chefs.»Bringen Sie es herein, Irene.«
«Der Bote sagt, daß er Anweisung hat, es Ihnen nur persönlich zu übergeben.«
Demiris antwortete nicht gleich.»Gut, kommen Sie mit ihm rein.«
Irene und der Bote betraten sein Arbeitszimmer.
«Sind Sie Constantin Demiris?«
«Ja.«
«Unterschreiben Sie bitte hier.«
Demiris unterschrieb die vorbereitete Empfangsbestätigung. Der Bote stellte einen großen Karton auf seinen Schreibtisch.»Danke, Herr Demiris.«
Constantin Demiris wartete, bis seine Sekretärin und der Bote den Raum verlassen hatten. Er betrachtete den Karton sekundenlang nachdenklich, bevor er ihn öffnete. Sein Inhalt bestand aus einem Tonbandgerät mit abspielbereit eingelegtem Band. Demiris drückte neugierig auf den Startknopf.
Napoleon Chotas' Stimme erfüllte den Raum.»Mein lieber Costa, alles wäre viel einfacher gewesen, wenn du geglaubt hättest, daß Frederick Stavros nicht die Absicht gehabt hat, unser kleines Geheimnis zu verraten. Noch bedauerlicher finde ich, daß du nicht geglaubt hast, daß ich diese unselige Geschichte für mich behalten würde. Ich habe allen Grund zu der Annahme, daß du den armen Stavros hast ermorden lassen — und daß nun ich an die Reihe kommen soll. Da mein Leben mir so kostbar ist wie dir deines, muß ich mich, bei allem Respekt, weigern, dein nächstes Opfer abzugeben… Vorsichtshalber habe ich alle Einzelheiten unserer Rollen, die du und ich im Verfahren gegen Noelle Page und Larry Douglas gespielt haben, schriftlich festgehalten und in einem versiegelten Umschlag bei der Staatsanwaltschaft hinterlegt. Dieser Umschlag wird nur geöffnet, falls ich tödlich verunglücke. Du siehst also, mein Freund, wie sehr es jetzt in deinem Interesse liegt, dass ich gesund und munter bleibe. «Die Aufnahme war zu Ende.
Constantin Demiris saß da und starrte ins Leere.
Als Napoleon Chotas an diesem Nachmittag in seine Kanzlei zurückkam, war die Angst von ihm abgefallen. Constantin Demiris war gefährlich, aber keineswegs dumm. Er würde es nicht wagen, jemanden beseitigen zu lassen, wenn er dadurch selbst in Gefahr geriet. Er hat angegriffen, dachte Chotas, und ich habe ihn mattgesetzt. Er lächelte vor sich hin. Zum Abendessen am Donnerstag werde ich mich anderswo einladen lassen müssen.
In den nächsten Tagen war Napoleon Chotas damit beschäftigt,
sich auf einen neuen Mordprozeß vorzubereiten — diesmal gegen eine Ehefrau, die die beiden Geliebten ihres Mannes erschossen hatte. Chotas stand wie gewohnt früh auf und arbeitete bis in die Nacht hinein, um seine Taktik für die Kreuzverhöre festzulegen. Sein Instinkt sagte ihm, daß er trotz der scheinbar hoffnungslosen Ausgangslage auch diesmal siegen würde.
Am Donnerstagabend arbeitete er bis nach Mitternacht in der Kanzlei, fuhr dann nach Hause und erreichte seine Villa gegen ein Uhr. Sein Butler empfing ihn an der Tür.»Soll ich Ihnen noch etwas bringen, Herr Chotas? Falls Sie hungrig sind, kann ich Ihnen Mezedes bringen oder…«
Danke, ich brauche nichts. Sie können zu Bett gehen.«
Napoleon Chotas ging in sein Schlafzimmer hinauf. Er lag noch eine ganze Weile wach, weil er über den bevorstehenden Prozeß nachdachte, und schlief erst kurz vor zwei Uhr ein. Dann begann er zu träumen.
Er war bei Gericht und befragte einen Zeugen, der plötzlich begann, sich die Kleider vom Leib zu reißen.
«Warum tun Sie das?«fragte Chotas.
«Weil ich verbrenne!«
Ein Blick in den überfüllten Saal zeigte Chotas, daß die Zuhörer sich ebenfalls auszogen.
Chotas wandte sich an den Richter.»Herr Vorsitzender, ich muß dagegen protestieren, daß… «
Auch der Richter war dabei, seine Robe auszuziehen.»Hier drinnen ist's zu heiß«, sagte er.
Hier ist's heiß. Und… laut.
Napoleon Chotas öffnete die Augen. An der Schlafzimmertür loderten Flammen empor, und der Raum war bereits völlig verqualmt.
Chotas setzte sich auf. Er war augenblicklich hellwach.
Das Haus brennt. Warum hat der Brandmelder nicht funktioniert!
Die Tür begann wegen der starken Hitze nachzugeben. Chotas stand auf und torkelte würgend und hustend ans Fenster. Er versuchte es zu öffnen, aber der Rahmen war so verzogen, daß das Fenster klemmte. Der Qualm wurde immer dichter, und Chotas rang nach Luft. Er sah sich verzweifelt nach einem Fluchtweg um.