In Melinas Zimmer trat Spyros Lambrou an das Bett seiner Schwester und starrte sie bestürzt an. Melina hatte einen gebrochenen Arm, eine Gehirnerschütterung und ein durch Schwellungen und Blutergüsse entstelltes Gesicht.
Spyros Lambrou sagte nur ein einziges Wort:»Demiris. «Seine Stimme zitterte vor Wut.
Melinas Augen füllten sich mit Tränen.»Er hat's nicht so gemeint«, flüsterte sie.
«Dafür vernichte ich ihn! Das schwöre ich dir bei meinem Leben!«Spyros Lambrou war noch nie so außer sich gewesen.
Der Gedanke daran, was Constantin Demiris Melina antat, war Spyros Lambrou unerträglich. Es mußte irgendeine Möglichkeit geben, ihm das Handwerk zu legen — aber wie? Er wußte nicht, was er tun sollte. Er brauchte einen guten Rat. Wie so oft in der Vergangenheit beschloß Lambrou, Madame Piris zu konsultieren. Vielleicht konnte sie ihm irgendwie helfen.
Meine Freunde würden mich auslachen, wenn sie wüßten, daß ich zu einer Wahrsagerin gehe, dachte Lambrou auf dem Weg zu ihr. Tatsache war jedoch, daß Madame Piris in der Vergangenheit mehrmals erstaunliche Dinge vorausgesagt hatte, die prompt eingetroffen waren. Sie muß mir auch diesmal helfen.
Sie saßen an einem Tisch in einer dunklen Ecke der schwachbeleuchteten Taverne. Madame Piris schien seit ihrer letzten Begegnung sehr gealtert zu sein. Ihre dunklen Augen blickten ihn unverwandt an.
«Ich brauche Hilfe, Madame Piris«, sagte Lambrou.
Sie nickte schweigend.
Womit soll ich anfangen?» Es geht um einen Mordprozeß, der vor ungefähr eineinhalb Jahren stattgefunden hat. Eine Frau namens Catherine Douglas war… «
Die Wahrsagerin schloß die Augen.»Nein!«ächzte sie.
Spyros Lambrou starrte sie erstaunt an.»Sie war ermordet worden — von ihrem Mann und… «
Madame Piris erhob sich schwankend.»Nein! Die Sterne haben mir gesagt, daß sie sterben würde!«
Lambrou war verwirrt.»Sie ist tot«, sagte er.»Ihr Mann und seine Geliebte haben sie…«
«Sie lebt!«
Er schüttelte energisch den Kopf.»Ausgeschlossen!«
«Sie ist hier gewesen. Sie hat mich vor etwa einem Vierteljahr aufgesucht. Sie ist in einem Kloster untergebracht gewesen.«
Plötzlich paßte alles zusammen. Wie Lambrou wußte, unterstützte Demiris das Kloster in loannina — der Stadt, in der Catherine Douglas ermordet worden sein sollte. Sie ist in einem Kloster untergebracht gewesen. Auch was Giorgios Lato ihm mitgeteilt hatte, war eine Bestätigung dafür. Demiris hatte zwei Unschuldige als Mörder in den Tod geschickt, während Catherine Douglas — in Wirklichkeit gesund und munter — von den Nonnen versteckt worden war.
Und Lambrou wußte, mit welchem Werkzeug er Constantin Demiris vernichten würde.
Tony Rizzoli.
11
Tony Rizzolis Probleme vervielfältigten sich. Was nur schiefgehen konnte, ging schief. Gewiß war es nicht seine Schuld, daß alles so gekommen war, aber er wußte, daß die Familie ihn dafür verantwortlich machen würde. Sie hielt nichts von faulen Ausreden.
Um so frustrierender wurde alles durch die Tatsache, daß der erste Teil des Unternehmens wunderbar geklappt hatte. Er hatte die Drogensendung aus Kolumbien problemlos nach Athen geschmuggelt und dort vorläufig in einem Lagerhaus untergebracht. Dann hatte er einen Flugbegleiter angeworben, der den Stoff beim nächsten Flug nach New York mitnehmen sollte. Und dann — keine 24 Stunden vor dem Abflug — war der Idiot wegen Trunkenheit am Steuer festgenommen und von seiner Fluggesellschaft fristlos entlassen worden.
Daraufhin hatte Tony Rizzoli auf einen Alternativplan zurückgegriffen.
Er hatte ein» Maultier «gefunden — in diesem Fall die 7ojährige Amerikanerin Sara Murchinson, die ihre in Athen lebende Tochter besucht hatte. Sie würde einen Koffer nach New York mitnehmen, ohne zu ahnen, was sie darin transportierte.
«Er enthält ein paar Andenken, die ich meiner Mutter versprochen habe«, behauptete Tony Rizzoli,»und weil Sie, so nett sind, ihn mitzunehmen, beteilige ich mich an Ihren Flugkosten.«
«Oh, das ist nicht nötig!«protestierte Sara Murchinson.»Ich bin froh, Ihnen diesen Gefallen tun zu können. Ich wohne gar nicht weit von Ihrer Mutter entfernt. Ich freue mich schon darauf, ihre Bekanntschaft zu machen.«
«Und ich bin sicher, daß sie sich freuen wird, Sie kennenzulernen«, antwortete er einschmeichelnd.»Leider ist sie ziemlich krank. Aber irgendjemand ist bestimmt da, um Ihnen den Koffer abzunehmen.«
Sie ist die Idealbesetzung für diesen Auftrag — eine liebe, durch und durch amerikanische Großmutter. Bei ihr werden die Zollbeamten höchstens vermuten, daß sie Stricknadeln schmuggelt.
Sara Murchinson wollte am nächsten Morgen nach New York zurückfliegen.
«Ich hole Sie ab und fahre Sie zum Flughafen.«»Oh, das ist lieb von Ihnen! Sie sind ein wirklich zuvorkommender junger Mann. Ihre Mutter ist sicher sehr stolz auf Sie.«
«Ja. Wir haben ein sehr enges Verhältnis zueinander. «Tony Rizzolis Mutter war bereits zehn Jahre tot.
Als Rizzoli am nächsten Morgen sein Hotel verlassen wollte, um das Drogenpaket aus dem Lagerhaus zu holen, klingelte das Zimmertelefon.
«Mr. Rizzoli?«fragte ein Unbekannter.
«Ja?«
«Hier ist Doktor Patsaka von der Notaufnahme im K A.T. Wir haben hier eine Mrs. Sara Murchinson eingeliefert bekommen. Sie ist nachts gestürzt und hat sich den Oberschenkelhals gebrochen. Sie hat mich gebeten, Sie anzurufen und Ihnen zu sagen, wie leid es ihr tut, daß sie… «
«Merda!« Tony Rizzoli knallte den Hörer auf die Gabel. Das ist jetzt schon die zweite Pleite. Wie soll ich so schnell ein anderes Maultier finden?
Rizzoli wußte, daß er vorsichtig sein mußte. In der Szene munkelte man, ein erfahrener amerikanischer Rauschgiftfahnder sei nach Athen gekommen, um mit den hiesigen Behörden zusammenzuarbeiten. Alle Verkehrswege sollten überwacht, Schiffe und Flugzeuge routinemäßig durchsucht werden.
Und als ob das alles nicht schon genug wäre, gab es ein weiteres Problem. Einer seiner Spitzel — ein krimineller Drogensüchtiger — hatte ihn gewarnt, daß die Polizei damit beginne, Lagerhäuser nach Rauschgift und anderer Schmuggelware zu durchsuchen. Der Druck nahm stetig zu. Es wurde Zeit, die Familie über die Lage aufzuklären.
Tony Rizzoli verließ das Hotel und schlenderte die Patissioustraße hinunter zum Fernmeldeamt.
Er wußte nicht, ob sein Hoteltelefon abgehört wurde, aber er wollte kein Risiko eingehen.
Das Gebäude Patissioustraße 85 war ein großer Sandsteinbau, dessen Giebel von einer Säulenreihe getragen wurde. Rizzoli betrat
die Eingangshalle und sah sich um. Die Wände verschwanden hinter zwei Dutzend nummerierten Telefonkabinen. In Regalen standen Telefonbücher aus aller Welt. Ein Schalter in der Raummitte war mit vier Beamtinnen besetzt, die Gesprächsanmeldungen entgegennahmen. Auch Tony Rizzoli stellte sich an.»Guten Morgen«, sagte er, als er an der Reihe war.
«Sie wünschen?«
«Ich möchte ein Auslandsgespräch anmelden.«
«Das kann bis zu einer halben Stunde dauern.«
«Kein Problem.«
«Land und Teilnehmernummer?«
Tony Rizzoli zögerte.»Hier. «Er legte der Beamtin einen Zettel hin.»Ich habe Ihnen alles aufgeschrieben. Ich möchte ein R-Gespräch anmelden.«
«Ihr Name?«
«Brown, Tom Brown.«
«Gut, Mr. Brown. Sie werden aufgerufen, wenn Ihr Gespräch da ist.«
«Danke.«
Er ging zu einer der Wartebänke hinüber und nahm Platz.
Ich könnte versuchen, das Paketin einem Auto zu verstecken, und einen Fahrer anheuern, der es über die Grenze bringt. Aber das wäre zu riskant; die Kontrollen an den Grenzübergängen sind verschärft worden. Vielleicht gelingt's mir, ein weiteres…
«Mr. Brown… Mr. Tom Brown…«Der Name wurde zweimal wiederholt, bevor Rizzoli begriff, daß er damit gemeint war. Er sprang auf und hastete an den Schalter.