«Gott ist Ihr Arzt, meine Liebe«, stellte Mutter Theresa ruhig fest.»Er wird Sie beizeiten erfahren lassen, was Sie wissen sollen. Außerdem darf kein Fremder unser Kloster betreten.«
Catherine fiel plötzlich etwas ein… eine vage Erinnerung an einen Mann, der im Klostergarten mit ihr sprach, ihr irgend etwas gab… Aber das Bild verschwand so rasch, wie es gekommen war.
«Ich gehöre nicht hierher.«
«Wohin gehören Sie dann?«
Genau das war das Problem.»Das weiß ich nicht. Ich suche irgend etwas. Verzeihen Sie, Ehrwürdige Mutter, aber ich weiß, daß ich es hier nicht finden werde.«
Mutter Theresa beobachtete sie mit nachdenklicher Miene.»Ich verstehe. Wohin würden Sie von hier aus gehen?«
«Auch das weiß ich nicht.«
«Lassen Sie mich darüber nachdenken, mein Kind. Wir sprechen bald wieder darüber.«
«Danke, Ehrwürdige Mutter.«
Nachdem Catherine gegangen war, saß Mutter Theresa lange an ihrem Schreibtisch und starrte ins Leere. Sie hatte eine sehr schwere Entscheidung zu treffen. Zuletzt griff sie nach einem Briefbogen, schraubte ihren Füllfederhalter auf und begann zu schreiben.
«Sehr geehrter Herr«, schrieb sie,»hier ist eine Veränderung eingetreten, auf die ich Sie aufmerksam machen möchte. Unsere gemeinsame Freundin hat mir erklärt, daß sie das Kloster zu verlassen wünscht. Teilen Sie mir bitte mit, was ich tun soll.«
Er las den kurzen Brief einmal, lehnte sich in seinen Sessel zurück und dachte über die Konsequenzen dieser Mitteilung nach. Catherine Alexander will also von den Toten auferstehen! Wie schade. Ich werde sie beseitigen lassen müssen. Aber vorsichtig, sehr vorsichtig.
Der erste Schritt würde der sein, sie aus dem Kloster zu holen. Constantin Demiris fand, daß es an der Zeit war, Mutter Theresa einen Besuch abzustatten.
Am nächsten Morgen ließ Demiris sich von seinem Chauffeur nach loannina fahren. Auf der Fahrt über Land dachte er an Catherine Alexander. Er erinnerte sich daran, wie schön sie gewesen war, als er sie kennengelernt hatte. Eine fröhliche, intelligente und geistreiche Frau, die sich auf ihr zukünftiges Leben in Griechenland gefreut hatte. Sie hat alles gehabt, dachte Demiris, und dann haben die Götter sich an ihr gerächt. Catherine war mit einem seiner Piloten verheiratet gewesen, und die Ehe mit ihm war zur Hölle auf Erden geworden. Catherine war fast über Nacht um zehn Jahre gealtert und zu einer schwammigen, aufgedunsenen Alkoholikerin geworden. Demiris seufzte. Schade um sie!
«Es ist mir sehr unangenehm, Sie damit belästigen zu müssen«, entschuldigte die Oberin sich,»aber das Kind weiß nicht, wohin es gehen soll, und… «
«Sie haben völlig richtig gehandelt«, versicherte Constantin Demiris ihr.»Hat sie denn gar keine Erinnerung an ihre Vergangenheit?«
Mutter Theresa schüttelte den Kopf.»Nein. Die Ärmste…«Sie trat ans Fenster und blickte in den Klostergarten hinaus, in dem mehrere Nonnen arbeiteten.»Sie ist dort draußen.«
Demiris stand auf, kam ans Fenster und sah ebenfalls hinaus. Die drei Nonnen kehrten ihnen den Rücken zu. Er wartete. Dann drehte sich die mittlere um, so daß er ihr Gesicht sehen konnte. Sie war so schön, daß es ihm fast den Atem verschlug. Wo war die schwammige, aufgedunsene Alkoholikerin geblieben?
«Sie ist die in der Mitte«, sagte Mutter Theresa.
Constantin Demiris nickte wortlos.
«Was soll ich mit ihr anfangen?«
Vorsichtig.»Lassen Sie mich darüber nachdenken«, antwortete Demiris.»Ich benachrichtige Sie dann.«
Constantin Demiris mußte eine Entscheidung treffen. Catherine Alexanders Aussehen hatte ihn überrascht. Sie hatte sich völlig verwandelt. Kein Mensch würde sie wiedererkennen. Der Plan, der ihm jetzt einfiel, war so teuflisch simpel, daß er beinahe laut aufgelacht hätte.
Noch am selben Abend schrieb er Mutter Theresa einen kurzen Brief.
Ein Wunder! dachte Catherine. Ein wahrgewordener Traum. Nach dem Morgengebet war Mutter Theresa in ihre winzige Zelle gekommen.
«Ich habe Ihnen etwas mitzuteilen, mein Kind.«
«Ja, Ehrwürdige Mutter?«
Die Oberin wählte ihre Worte mit Bedacht.»Ich habe eine gute Nachricht für Sie. Ich habe einem Freund des Klosters von Ihnen berichtet, und er will Ihnen helfen.«
Catherine fühlte ihr Herz jagen.»Mir helfen… wie?«
«Das wird er Ihnen selbst erklären. Aber er ist ein sehr freundlicher und großzügiger Mann. Sie werden uns bald verlassen.«
Ihre Worte bewirkten, daß Catherine urplötzlich ein kalter Schauer über den Rücken lief. Sie würde in eine fremde Welt hinausgehen, an die sie sich nicht einmal erinnern konnte… Und wer ist mein Wohltäter?
Aber von Mutter Theresa erfuhr sie nichts weiter als:»Er ist ein sehr fürsorglicher Mann. Sie sollten ihm dankbar sein. Sein Wagen holt Sie am Montagmorgen ab.«
In den beiden folgenden Nächten fand Catherine Alexander kaum Schlaf. Die Vorstellung, das Kloster verlassen und in die unbekannte Welt hinausgehen zu müssen, war plötzlich erschreckend. Sie fühlte sich nackt und schutzlos. Vielleicht ist es besser, wenn ich nicht weiß, wer ich bin. Bitte, lieber Gott, gib auf mich acht.
Am Montagmorgen stand die Limousine schon um sieben Uhr vor dem Klostertor. Catherine hatte die ganze Nacht wach gelegen und an die vor ihr liegende unbekannte Zukunft gedacht.
Mutter Theresa begleitete sie bis zum in die Welt hinausführenden Tor.»Wir werden für Sie beten, mein Kind. Und denken Sie daran, daß wir immer Platz für Sie haben, falls Sie zurückkommen möchten.«
«Danke, ehrwürdige Mutter. Ich werde daran denken. «Aber in ihrem Innersten wußte Catherine, daß sie nie zurückkommen würde.
Die lange Fahrt von loannina nach Athen weckte in Catherine die widersprüchlichsten Empfindungen. Obwohl es herrlich aufregend war, außerhalb der Klostermauern zu sein, wirkte die Außenwelt irgendwie bedrohlich. Werde ich erfahren, was in meiner Vergangenheit Schreckliches passiert ist? Hat es irgendwas mit meinem immer wiederkehrenden Traum zu tun, in dem jemand versucht, mich zu ertränken?
Am frühen Nachmittag fuhren sie durch größere Dörfer, erreichten die Außenbezirke von Athen und befanden sich wenig später im Gewirr der Millionenstadt. Catherine erschien alles fremd und unwirklich — und dennoch merkwürdig vertraut. Hier bin ich schon einmal gewesen dachte sie aufgeregt.
Der Chauffeur fuhr nach Osten weiter, und eine Viertelstunde später erreichten sie einen riesigen Landsitz hoch auf einem Hügel. Sie fuhren an einem Pförtnerhäuschen vorbei durch ein hohes schmiedeeisernes Tor, folgten einer von majestätischen Zypressen gesäumten langen Auffahrt und hielten dann vor einer weitläufigen weißen Villa im mediterranen Stil, die von einem halben Dutzend herrlichen Statuen flankiert war.
Der Chauffeur riß Catherine den Schlag auf, und sie stieg aus. Vor dem Portal wartete ein Mann.
«Kalimera. «Das» Guten Tag «kam wie von selbst von Catherines Lippen.
«Kalimera.«
«Sind Sie…sind Sie der Mann, der mich hierher eingeladen hat?«
«Nein, Miss, ich bin der Butler. Mr. Demiris erwartet Sie in der Bibliothek.«
Demiris. Den Namen habe ich noch nie gehört. Weshalb will er mir helfen?
Catherine Alexander folgte dem Butler durch eine Rotunde, deren riesige Glaskuppel von Marmorsäulen getragen wurde. Auch der Fußboden bestand aus weißem italienischem Marmor.
Das große Wohnzimmer war eine Wohnhalle mit hoher Balkendecke und zu Sitzgruppen zusammengestellten, bequem niedrigen Ledersofas und — sesseln. Ein übergroßes Gemälde — ein dunkel dräuender Goya — nahm eine ganze Wand ein. Catherines Begleiter blieb vor der Tür zur Bibliothek stehen.
«Mr. Demiris erwartet Sie drinnen.«
Die Wände der Bibliothek verschwanden hinter mit Gold abgesetzten weißen Bücherschränken, in denen lange Reihen kostbarer Lederbände mit goldgeprägten Buchrücken standen. Hinter dem riesigen Schreibtisch am Fenster saß ein Mann. Er hob den Kopf, als Catherine hereinkam, und stand auf. Er beobachtete ihre Miene, ohne darin das geringste Zeichen von Erkennen zu finden.