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«Das ist doch unmöglich.«

Ravic sah mich ironisch an.»Meinen Sie?«Er deutete zu Kahn hinüber, der am Boden aussah, als sei er keine zwanzig Jahre alt.»Der da hatte keine Illusionen. Man wird uns wohl hassen wie vorher! Glauben Sie noch immer an das Märchen von den armen, vergewaltigten Deutschen? Schauen Sie doch in die Zeitungen! Sie verteidigen jedes Haus, obschon sie schon zehnmal den Krieg verloren haben. Sie verteidigen ihre Nazis wütender als eine Mutter ihre Kinder, und sie sterben auch noch für sie. «Er schüttelte ärgerlich und traurig den Kopf.»Der dort wußte, was er tat. Er war nicht verzweifelt. Er sah nur klarer als wir. «Ravic raffte sich zusammen.»Ich bin traurig«, sagte er.»Ich traure um Kahn. Er hat mich 1940 gerettet. Ich war im Lager. Im Internie rungslager der Franzosen. Zusammengefangen in der allgemei nen Angst. Die Deutschen kamen. Der Kommandant wollte uns nicht laufen lassen. Ich wußte, daß man mich suchte. Man hätte mich aufgehängt, wenn man mich gefunden hätte. Kahn fand heraus, wo ich war. Er erschien in SS-Uniform mit zwei Beglei tern im Camp, schrie den französischen Kommandanten an und verlangte, daß man mich ihm auslieferte.«

«Klappte es?«

«Nicht ganz«, erwiderte Ravic trocken.»Der Kommandant be sann sich plötzlich auf seine verdammte militärische Ehre. Er be hauptete, ich sei nicht im Lager und wäre schon entlassen. Er hatte nichts dagegen, uns in corpore zu übergeben, bei einem ein zelnen jedoch versuchte er, ihn zu retten. Kahn brachte das Lager in Aufruhr, bis er mich fand. Es war eine Komödie der Irrungen. Ich hatte mich versteckt, weil ich tatsächlich glaubte, die Gestapo wäre da. Draußen gab Kahn mir einen Kognak und erklärte mir, was los war. Er war so verkleidet, daß ich ihn nicht erkannt hatte. Führerschnurrbart und gefärbtes Haar. Sein Kognak war der beste, den ich je getrunken hatte. Er hatte ihn eine Woche vorher erbeutet.«

Ravic sah auf.»Er war der leichteste Mensch in schweren Situa tionen, den ich gekannt habe. Hier wurde er schwerer und schwe rer. Er konnte nicht gerettet werden. Verstehen Sie, weshalb ich Ihnen dies gesagt habe?«

«Ja.«

«Ich habe mehr Grund als Sie, mich anzuklagen. Ich klage mich nicht an. Wo bliebe man sonst?«sagte Ravic langsam.

Dann krachte es auf der Treppe.»Die Schritte der Polizei«, sagte Ravic.»Auch sie vergißt man nie.«

«Wohin bringt man ihn?«fragte ich rasch.

«In die Morgue zum Sezieren. Vielleicht auch nicht. Die Todes ursache ist klar. «Die Tür sprang auf. Rohes, primitives Leben füllte den Raum. Knallende Gesundheit machte sich professionell breit mit ihren stupiden Fragen, den zu kurzen Bleistiften, mit einer Bahre und Lärm. Man nahm uns mit zur Polizei. Wir muß ten unsere Adressen angeben und konnten schließlich gehen. Kahn blieb zurück.

«Der Besitzer des Beerdigungsinstituts begrüßt uns bereits, als wären wir alte Bekannte«, sagte Lissy Koller bitter.

Ich sah sie an. Sie war gefaßter, als ich erwartet hatte. Es war sonderbar, daß Kahn auf Frauen keinen nachhaltigen Eindruck gemacht hatte. Ravic hatte Tannenbaum benachrichtigt, und der hatte Carmen Bescheid gesagt. Sie hatte geantwortet, daß sie nicht überrascht sei, und sich wieder ihren Hühnern zugewandt.

Lissys Beziehungen waren kürzer und loser gewesen, aber auch sie war viel weniger verstört als bei der Trauerfeier für Betty Stein. Ihr Gesicht war rosig und frisch, als lägen ihre Depressio nen weit hinter ihr. Sie hatte wahrscheinlich einen Liebhaber gefunden, dachte ich. Jemand, der harmlos und egoistisch ist und den sie versteht. Kahn hatte auch sie nicht begriffen, und er hatte sich nie für Frauen interessiert, die ihn verstanden hätten.

Es war ein windiger Tag mit weißen Wolkengebirgen. Von den Dächern tropfte der Tau. Ich hatte Rosenbaum gedroht, ihn aus der Kapelle zu prügeln, wenn er an Kahns Sarg reden sollte, und er hatte versprochen zu schweigen. Es gelang mir im letzten Augenblick, den Besitzer des >Trauerheims< davon abzuhalten, deutsche Volkslieder auf dem Grammophon zu spielen. Er war ziemlich beleidigt und erklärte mir, daß andere Kunden nichts dagegen einzuwenden gehabt hätten, im Gegenteiclass="underline" >Ach, wie ist’s möglich dann< hätte sehr gefallen.

«Woher wissen Sie das?«

«Es wurde mehr geweint als sonst.«

Es kam darauf an, wie man es auffaßte, dachte ich. Der Mann hatte die Platten von Bettys Trauerfeier behalten und daraus ein Geschäft gemacht. Er war seit Möllers Tod der Spezia list für Emigrantenbegräbnisse geworden.»Etwas Musik muß doch gespielt werden«, erklärte er mir.»Es ist sonst zu nüchtern. «Die Gebühr für die Beerdigung erhöhte sich mit Musik um fünf Dollar. Ich hatte bereits die Lorbeerbäume am Eingang gestri chen, jetzt starrte der Mann mich an, als risse ich ihm sein letztes Stück Brot aus den Goldzähnen. Ich schaute seinen Plattenvor rat durch und fand das >Ave verum< von Mozart.»Spielen Sie diese Platte«, sagte ich.»Und lassen Sie meinetwegen die Kübel mit den Lorbeerbäumen da.«

Die Kapelle war nur halb voll. Ein Nachtwächter, drei Kellner, zwei Masseure, eine Masseuse, die nur neun Finger hatte, und eine weinende alte Frau, die ich nicht kannte, waren dabei. Die alte Frau, ein Kellner, der früher in München ein Korsettge schäft, und ein Masseur, der in Rothenburg ob der Tauber eine Kohlenhandlung gehabt hatte, waren von Kahn in Frankreich der Gestapo weggeschnappt worden. Sie konnten nicht begreifen, daß er tot war. Außerdem war noch eine Anzahl Leute da, die ich flüchtig kannte.

Plötzlich sah ich Rosenbaum. Er kam hinter dem armseligen klei nen Sarg hervorgeschlichen wie ein schwarzer Frosch. Da er ein Begräbnistiger war, trug er einen Anzug mit einem Jackett aus Marengostoff und einer gestreiften Hose. Er war der einzige, der todesgemäß angezogen war; er war im sogenannten >kleinen Be- suchsanzug< vergangener Zeiten. Breit stellte er sich vor den Sarg, schielte zu mir herüber und öffnete den Mund.

Ravic stieß mich an. Er hatte gemerkt, daß ich gezuckt hatte. Ich nickte. Rosenbaum hatte gesiegt; er hatte gewußt, daß ich keine Prügelei vor Kahns Sarg riskieren würde. Ich wollte hinausge hen, aber Ravic stieß mich wieder an.»Glauben Sie nicht, daß Kahn gelacht hätte?«flüsterte er.

«Nein. Er hat sogar darüber gesprochen, daß er lieber ertrinken wolle, als Rosenbaum reden zu lassen.«

«Gerade deshalb«, sagte Ravic.»Kahn wußte, wenn etwas unabwendbar war — er drehte es dann um. Dies ist unabwend bar.«

Ich brauchte keinen Entschluß zu fassen. Es war, als wäre eines zum ändern gekommen, so wie man Blätter aufeinanderlegt, und plötzlich sind sie ein Buch geworden. Die Monate des Zau derns, der Hoffnung, der Resignation, der Rebellion und der schweren Träume hatten sich aufeinandergelegt, und ohne daß ich selbst etwas dazuzutun brauchte, waren sie zu einer Gewiß heit geworden. Ich wußte, daß ich zurüdtgehen würde. Es war nichts Melodramatisches mehr dabei; es war fast wie das Fazit eines Buchhalters. Ich konnte nicht anders. Ich ging nicht einmal zurück, um mich zu rächen. Selbst das war vorbei. Es war viel einfacher. Ich ging zurück, um meinen Fall zu ordnen. Solange ich das nicht getan hatte, würde ich nirgendwo Ruhe finden. Der Selbstmord, der Ekel vor meiner Feigheit und die scheußlichste Reue würden sonst meine nächsten Begleiter sein, während ich mein Dasein weiterschleppte. Ich mußte gehen. Ich wußte noch nicht, was ich tun würde, aber ich war ziemlich sicher, daß es mit Gerichten, Prozessen und legalen Sühnen nicht viel zu tun haben würde. Ich kannte die Gerichte und ich kannte die Richter in dem Lande, in das ich zurückkehren wollte. Sie waren fügsame Helfer der Regierung gewesen, und ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie plötzlich ein Gewissen bei sich entdecken würden, das etwas anderes war als eine opportunistische Gelegenheit, sich auf die Seite zu schlagen, die jetzt an der Macht war. Ich konnte mich nur auf mich selbst verlassen.

Als der Waffenstillstand bekanntgegeben wurde, ging ich zu Vriesländer. Er begrüßte mich strahlend.»Endlich ist die Schweinerei vorbei! Jetzt kann man anfangen, wieder aufzu bauen!«