«Ich bringe Sie nach Hause«, sagte ich.
Nach der Wärme des Lokals empfing uns jetzt ein klirrender Frost. Die Drugstores und Hamburger-Läden starrten mit ihrem unbarmherzigen, gefrorenen Neonlicht in die windige Nacht.»Es gibt Situationen, in denen es lächerlich ist, heroisch allein sein zu wollen«, sagte ich.»Ihre kalte Bude…«
«Sie ist überheizt«, unterbrach Kahn mich.»Wie alles in New York.«
«Überheizt und kalt wie das verfluchte Neonlicht, das die Trost losigkeit selber ist, wenn man allein durch die Straßen rennt und mit den Zähnen klappert. Warum kommen Sie nicht in die Plüschbude des Hotels Reuben? Zwischen Homosexuellen, Lu den, Selbstmördern und Mondsüchtigen ist man geborgener als sonstwo. Seien Sie vernünftig und kommen Sie mit!«
«Morgen«, sagte Kahn.»Fleute habe ich eine Verabredung.«»Unsinn.«
«Doch«, sagte er.»Mit Lissy Koller. Glauben Sie es nun?«
Der Zwilling, dachte ich. Warum nicht? Es war merkwürdig, aber der Zwilling schien mir noch weniger zu Kahn zu passen als Carmen. Der Zwilling war hübsch, häuslich, liebebedürftig wie eine verirrte Katze und viel weniger dumm als Carmen, aber plötzlich in der eisigen Nacht ging mir auf, warum Kahn nur Carmen haben konnte — es war ein Nebeneinander, das in seiner absoluten Sinnlosigkeit die Sinnlosigkeit des entwurzelten Da seins aufhob.
Kahn blickte die Straße entlang, die voll war von den roten Schlußlichtern der Autos, die wie verstreute Kohlen die Dunkel heit vergeblich zu erwärmen versuchten.»Dieser Schattenkrieg mit unsichtbaren Verwundeten und unsichtbaren Toten, mit stummen Bomben und stummen Friedhöfen geht zu Ende. Was wird bleiben? Schatten, Schatten — wir auch!«
Wir waren vor dem Radioladen angekommen. Die Apparate glitzerten im Mondlicht, wie automatische Soldaten eines zu künftigen Krieges. Ich sah hinauf. Das Fenster von Kahns Zim mer war erleuchtet.»Schauen Sie nicht um sich wie eine besorgte Bruthenne«, sagte Kahn.»Sie sehen, ich habe das Licht brennen lassen. Ich komme nicht in ein dunkles Zimmer.«
Ich dachte an den Zwilling, der auch vor seinem Zimmer Angst gehabt hatte. Vielleicht hockte er wirklich oben und kämmte sich. Es stimmte alles nicht und machte es nur trostloser.»Wird es eigentlich noch kälter in New York?«fragte ich.
«Viel kälter«, sagte Kahn.
Natascha trug Ohrringe aus großen Rubinen, eine Kette aus Ru binen und Diamanten und einen herrlichen Ring.»Der Ring ist zweiundvierzig Karat«, flüsterte der Photograph Plorst mir zu.»Wir wollten eigentlich einen großen Sternrubin dafür haben, aber es gibt keine im Handel. Selbst bei van Cleef und Arpels nicht. Wir wollen auch Aufnahmen ihrer Hände machen. In Farben. Nun, den Stern kann man hineinretuschieren. Sogar einen schöneren, als es ihn in Wirklichkeit gibt«, fügte er mit Genugtuung hinzu.»Heutzutage ist ja alles Montage!«
«Ja?«fragte ich und sah Natascha an. Sie saß still in einem weißen Satinkleid, überrieselt von den Rubinen, auf der Platt form im weißen Licht. Nichts erinnerte daran, daß sie am Abend vorher auf meinem Bett gelegen und geschrien hatte, heiser und wie ein nackter Bogen gekrümmt: Tiefer, tiefer! Brich mich in Stücke! Tiefer! Zerreiß mich!
«Natürlich«, sagte Horst.»Die Frauen und die Politiker. Mehr und mehr Montage. Falsche Brüste, Schaumgummihintern,
Schminke, falsche Augenwimpern, Perücken, falsche Zähne — das Ganze ein betörendes Bild. Dazu komme ich mit weicher Einstellung, unscharfer Linse, raffinierten Lichteffekten, die Jahre schmelzen wie Zucker im Kaffee, voilä. Und die Politi ker? Die meisten können kaum lesen und schreiben. Sie haben kleine kluge Juden, die ihre Reden schreiben, Agenturen, die ihnen Bonmots zuschieben, Autoren für ihre Bücher, Berater hin ter ihrem Rücken, Schauspieler, die ihnen Haltung beibringen, und eventuell Grammophone, die für sie sprechen. «Er stand auf und sprang zu seinem Apparat.»Das ist gut, Natascha. Halte es einen Augenblick so!«
Natascha stieg von ihrer Plattform und aus ihrem weißen Licht herunter und verwandelte sich aus der Kaiserin in die von Schmuck glitzernde Frau eines Waffenmillionärs.»Ich ziehe mich rasch um«, sagte sie.»Haben wir noch von dem Gulasch?«
Ich schüttelte den Kopf.»Es hat für drei Tage gereicht. Gestern abend haben wir die Schüssel ausgekratzt. Mußt du die Juwe len mitnehmen?«
«Nein. Der blonde junge Mann drüben ist von van Cleef. Er nimmt sie mit.«
«Gut. Dann können wir gehen, wohin wir wollen.«
«Ich muß noch eine Aufnahme machen. Ein Frühlingskostüm. Gott, bin ich hungrig.«
Ich griff in die Tasche. Ich kannte diese Hungeranfälle bei ihr. Sie hatte das Gegenteil von Diabetes, es hatte den scheußlichen Namen Hypoglykämie und war nichts weiter, als daß der Zuckerspiegel ihres Blutes rascher sank als bei normalen Menschen. So wurde sie schlagartig sehr hungrig. Ich hatte sie wäh rend der Zeit, als sie in der 57. Straße wohnte, nachts, wenn ich aufgewacht war und Diebe vermutet hatte, oft vor dem Eis- schrank gefunden: Nackt, vom Innenlicht des Eisschranks ma gisch beleuchtet und hingebungsvoll an einem kalten Kotelett nagend, ein Stück Käse in der ändern Hand.
Ich holte ein Päckchen heraus, in Pergamentpapier eingehüllt.»Etwas Steak-Tartar«, sagte ich.»Als Zwischengericht.«
«Mit Zwiebeln?«
«Mit Zwiebeln und dunklem Brot.«
«Du bist ein Engel«, erklärte sie, schob das Halsband beiseite und begann zu essen. Ich hatte mich daran gewöhnt, diese Päck chen immer in die Tasche zu stecken, wenn wir irgendwohin gin gen, wo es für einige Stunden nichts zu essen gab, wie im Kino oder im Theater, und ich nahm sie besonders dann mit, wenn das in die Zeit fiel, in der man gewöhnlich aß. Sie ersparten mir viele Unbequemlichkeiten. Natascha konnte ziemlich ärgerlich werden, wenn sie plötzlich von diesem tobenden Hunger ge blendet wurde und weit und breit nicht einmal ein Stück Brot greifbar war. Sie konnte nichts dagegen machen, es war wie eine Art geistiger Verwirrung. Sie spürte Hunger einfach viel stärker als andere Menschen, so, als hätte sie schon den ganzen Tag ge fastet. Ich trug meistens auch ein kleines Fläschchen in meiner Rocktasche, das etwa zwei große Schluck Wodka enthielt. Mit einem Happen Steak-Tartar gab das eine fast königliche Mahl zeit, auch wenn der Wodka natürlich nicht kalt war. Es war eine Vorsichtsmaßnahme, die mir der Mann, von dem ich meinen Paß bekommen, beigebracht hatte. Körperlicher Komfort schlägt jeden Geistesblitz, hatte er mir erklärt. Man braucht sich weni ger anzustrengen und der andere ist glücklich. Ich wartete dar auf, daß Natascha die Jahreszeiten wieder um eine Saison vor ausstellte. Es waren nicht mehr viele Pelzmäntel im Atelier zu sehen, dafür einige leichte Breitschwanzjacken, die von den Lehrmädchen auch schon zusammengepackt wurden. Bei Horst war es Mai. Kostüme in Wolle und hellen Farben: kobaltblau, nilgrün, maisgelb, wüstenbraun und wie die verführerischen Namen sonst noch waren. Mai, dachte ich. Im Mai soll der Krieg zu Ende sein. Was dann? hatte Kahn gesagt. Was dann? dachte ich und sah Natascha an, die in einem kurzen Jackenkleid mit einem wehenden ChifTonschal aus dem Hintergrund hervorkam, schmal und etwas schwankend, als wären ihre Beine zu lang. Wo würde ich im Mai sein? Wieder einmal fiel mir die Zeit auseinan der wie eine platzende Tüte mit Tomaten, und das sinnlose Kaleidoskop begann sich zu drehen.»Wir sind verdorben für ein normales Leben«, hatte Kahn gesagt,»können Sie sich mich vorstellen als Radiovertreter mit einer Familie, der demokra tisch wählt, Geld beiseite legt und versucht, Kirchenvorsteher in seinem Sprengel zu werden? Wir sind verdorben, viele haben etwas abgekriegt wie die Opfer einer Explosion. Ein Teil ist ohne allzu schwere Verletzungen davongekommen, manche haben so gar profitiert, andere sind Krüppel geworden, und die Verletz ten, auf die es am meisten ankommt, werden sich nie mehr zu rechtfinden, und schließlich werden sie untergehen. «Mai 1945! Oder Juni oder Juli! Die Zeit, die all die Jahre hindurch so quälend dahingeschlichen war, schien auf einmal zu rasen. Ich starrte zu Natascha hinüber, die jetzt von allen Seiten beleuchtet wurde und auf der Plattform stand, etwas vorgereckt, das Ge sicht im Profil, wahrscheinlich leicht nach Zwiebeln duftend, die Galionsfigur eines unsichtbaren Schiffes, das in einem Meer von Licht mit der Zeit um die Wette raste.