«Bist du keiner mehr?«
«Ich bin stumm geworden. Englisch kann ich gerade genug, um zu sprechen, Französisch auch genug, um zu schreiben, von deut schen Blättern bin ich verbannt. Ist es da ein Wunder, wenn die Phantasie wie ein Unkraut hochschießt und romantische Blüten ansetzt? In normalen Zeiten wäre ich kein so unzeitgemäßer, falscher Romantiker geworden.«
«Glaubst du das?«
«Nein, aber es ist etwas daran.«
«Es gibt keine falschen Romantiker, Robert«, sagte Natascha.»Doch. In der Politik. Da aber stiften sie fürchterliches Unheil. In Deutschland sitzt gerade einer im Bunker von Berlin.«
Ich brachte sie nach Hause. Der Rolls-Royce war zum Glück nicht mehr da, sie hatte ihn fortgeschickt. Ich wäre nicht über rascht gewesen, wenn sie ihn behalten hätte.»Wunderst du dich nicht, daß er weg ist?«fragte sie.
«Nein«, sagte ich.
«Du hast es erwartet?«
«Auch nicht.«
«Was hast du erwartet?«
«Daß du mit mir ins Hotel Reuben kommen würdest.«
Wir standen im Eingang ihres Hauses. Es war dunkel und sehr kalt.»Es ist schade, daß wir das Appartement nicht mehr haben, wie?«
«Ja«, erwiderte ich und sah in das fremde Gesicht mit den langen Wimpern.
«Komm mit mir hinauf«, flüsterte sie.»Aber wir müssen uns stumm lieben.«
«Nein«, sagte ich.»Komm mit mir ins Hotel. Da brauchen wir nicht stumm zu sein.«
«Warum hast du mich nicht vom Pavillon gleich mitgenom men?«
«Ich weiß es nicht.«
«Wolltest du mich nicht?«
«Ich weiß es nicht. Manchmal will man und will nicht.«
«Was war es?«
«Vielleicht, weil du so fremd warst. Ich weiß es nicht. Jetzt will ich, weil du so fremd bist.«
«Nur deshalb?«
«Nein.«
«Such ein Taxi. Ich warte hier.«
Ich ging rasch zur Straßenecke. Es war sehr kalt, und es war auf regend zu wissen, daß Natascha im Dunkel der Haustür wartete. Ich spürte, daß kleine Muskeln in meiner Brust zitterten. Ich lief bis zur nächsten Ecke und fand ein Taxi und fuhr mit ihm zurück. Natascha kam rasch aus dem Hause. Wir sprachen nicht miteinander. Ich fühlte, daß auch Natascha zitterte. Wir hielten uns an den Händen und preßten sie aneinander, aber sie zitterte weiter. Wir fielen fast aus dem Taxi. Niemand sah uns. Es schien, als wäre es das erstemal, daß wir zusammen waren.
XXXI
Betty Stein starb im Januar. Die letzte deutsche Offensive gab ihr den Rest. Sie hatte den Vormarsch der Alliierten gierig ver folgt, ihr Zimmer war voll von Zeitungen gewesen. Als dann überraschend die deutsche Gegenoffensive einsetzte, war ihr ver zweifelter Mut gesunken. Selbst der Zusammenbruch der Offen sive konnte ihn nicht wieder beleben. Sie dämmerte dahin und glaubte, der Krieg würde sich jetzt noch Jahre hinziehen. Ihre große Hoffnung, die Deutschen würden sich von den Nazis be freien, sank.»Sie werden jede Stadt verteidigen«, erklärte sie müde.»Es wird noch Jahre dauern. Sie und die Nazis sind eins. Sie werden sie nicht im Stich lassen. «Sie schwand dahin. Eines Morgens fand Lissy sie tot im Bett. Sie war plötzlich klein und leicht geworden, und es war schwer, sie wiederzuerkennen, wenn man sie eine Woche nicht gesehen hatte, so sehr hatten die letzten Tage sie verändert.
Sie hatte nicht verbrannt werden wollen. Sie behauptete, dieser reinliche Tod sei durch die ununterbrochen flammenden Krema torien der Deutschen, die aus Hunderten von Schloten leuchteten wie die Schornsteine eines riesigen Schmelzwerkes der Hölle, für lange Zeit unannehmbar geworden, Betty hatte sogar die Medizinen der deutschen Chemiewerke abgelehnt, die noch aus alten Lagern in Amerika stammten. Unberührt von all diesem war der so abstrakte Wunsch übriggeblieben, Berlin wiederzusehen. In ihrem Kopf war ein Berlin entstanden, das es nicht mehr gab und von dem keine Zeitungsnachricht sie abbringen konnte — ein längst vergangenes Berlin der Erinnerung, das nur noch eigensinnig in den Köpfen vieler Emigranten lebte und das in ihnen unzerstörbar war.
Betty wurde an einem Tag begraben, an dem die Straßen hoch voll Schnee lagen. Ein Schneesturm war am Tage vorher nieder gegangen, und die Stadt wurde aus den weißen Massen heraus gegraben. Hunderte von Lastwagen schleppten ihn in den Hud son und den Eastriver. Der Himmel war sehr blau, und die Sonne schien eisig.
Die Kapelle des Beerdigungsinstitutes konnte die Leute nicht fassen, die gekommen waren. Betty hatte vielen geholfen, die sie lange vergessen hatten. Jetzt aber füllten sie die Reihen der Pseudokirche, in der die Orgel stand, die keine Orgel war, son dern eine Grammophonanlage, und die Platten spielte mit den Stimmen von Sängern und Sängerinnen, die tot waren und so die Überreste eines Deutschland, das nicht mehr existierte. Richard Tauber sang deutsche Volkslieder, ein jüdischer Sänger mit einer der lyrischsten Stimmen der Welt, hinausgeworfen von den Barbaren, an Lungenkrebs in England gestorben. Er sang: Ach, wie ist’s möglich dann, daß ich dich lassen kann, hab dich von Herzen lieb, nur dich allein. Es war schwer zu ertragen, aber es war Bettys Wunsch gewesen. Sie wollte nicht auf englisch scheiden. Ich hörte hinter mir ein schnaubendes Schluchzen und sah, daß es Tannenbaum war. Er sah hohläugig und grau aus und war nicht rasiert. Wahrscheinlich war er von Kalifornien herübergekommen und hatte nicht geschlafen. Er verdankte Bet tys Unermüdlichkeit seine Karriere.
Wir versammelten uns noch einmal in Bettys Wohnung. Sie hatte auch darauf bestanden. Es sollte fröhlich zugehen, hatte sie an geordnet. Ein paar Flachen Wein waren da, und Lissy, der Zwil ling, und Vesel hatten für Gläser und etwas Kuchen aus der ungarischen Bäckerei gesorgt.
Es wurde nicht fröhlich. Wir standen herum und hatten das Ge fühl, daß jetzt, wo Betty nicht mehr war, nicht einer fehlte, son dern viele.
«Was wird mit der Wohnung?«fragte Meyer II.»Wer kriegt sie?«
«Die Wohnung wurde Lissy hinterlassen«, sagte Ravic.
«Die Wohnung und alles, was darin ist.«
Meyer II. wandte sich an Lissy.»Sie werden sie doch sicher abgeben wollen. Sie ist ja zu groß für Sie allein. Wir suchen dringend eine für drei Personen.«
«Die Miete geht noch bis Ende des Monats«, sagte Lissy mit ver heulten Augen und stellte Meyer II. ein Glas hin.
Meyer II. trank.»Sie wollen sie doch sicher abgeben, wie? An Freunde Bettys, nicht an gleichgültige Menschen!«
«Herr Meyer«, erklärte Tannenbaum ärgerlich.»Muß darüber unbedingt jetzt geredet werden?«
«Warum nicht? Wohnungen sind schwer zu finden, besonders alte mit niedriger Miete. Da muß man rasch sein. Wir warten schon lange!«
«Dann warten Sie noch ein paar Tage länger.«
«Warum?«sagte Meyer II. verständnislos.»Ich muß morgen wieder auf die Tour und komme erst nächste Woche wieder nach New York.«
«Dann warten Sie bis nächste Woche. Es gibt so etwas wie Pie tät.«
«Davon rede ich ja«, sagte Meyer II.»Ehe jemand Unbekannter die Wohnung wegschnappt, ist es doch pietätvoller, wenn Be kannte von Betty sie kriegen!«
Tannenbaum kochte vor Wut. Er betrachtete sich, des ändern Zwillings wegen, als Lissys Beschützer.»Sie wollen die Wohnung natürlich umsonst haben, wie?«
«Umsonst? Wer spricht von umsonst? Man könnte vielleicht et was zum Umzug beisteuern oder einige der Möbel kaufen. Sie wollen doch kein Geschäft aus einer so traurigen Angelegenheit machen?«