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«Doch«, erklärte der rot angelaufene Tannenbaum.»Lissy hat Betty monatelang umsonst gepflegt, und Betty hat ihr dafür die Wohnung hinterlassen. Sie wird nicht an Schlawiner ver schenkt.«

«Ich muß doch sehr bitten, im Angesichte des Todes…«

«Seien Sie ruhig, Herr Meyer«, sagte Ravic.

«Was?«

«Seien Sie ruhig. Machen Sie Fräulein Koller ein schriftliches Angebot und seien Sie jetzt still.«

«Ein schriftliches Angebot? Sind wir denn Nazis? Ich meine, mein Wort…«

«Dieser Leichengeier«, sagte Tannenbaum bitter.»Er hat Betty nie besucht, aber der armen Lissy möchte er die Wohnung weg nehmen, bevor sie weiß, was sie wert ist!«

«Bleiben Sie hier?«fragte ich.»Oder haben Sie noch in Holly wood zu tun?«

«Ich muß zurück. Eine kleine Rolle in einem Cowboyfilm. Sehr interessant. Wissen Sie, daß Carmen geheiratet hat?«

«Was?«

«Vor einer Woche. Den Besitzer einer Gärtnerei im San-Fernan- do-Tal. War sie nicht einmal mit Kahn zusammen?«

«Das weiß ich nicht. Ich glaube, nicht richtig. Wissen Sie es be stimmt?«

«Ich war bei der Hochzeit. Zeuge für Carmen. Der Mann ist groß, harmlos und mittelmäßig. War früher ein guter Baseball spieler, heißt es. Sie züchten Salat und Blumen und haben eine Hühnerfarm.«

«Hühner«, sagte ich,»ich verstehe.«

«Der Mann ist der Bruder der Wirtin, bei der sie wohnte.«

Ich hatte mich gewundert, daß Kahn nicht zur Trauerfeier ge kommen war. Jetzt wußte ich, warum er weggeblieben war. Er wollte idiotische Fragen vermeiden. Ich beschloß, ihn aufzu suchen. Es war Mittag, und er hatte frei um diese Zeit.

Ich fand ihn mit Holzer und Frank. Holzer war Schauspieler, Frank ein in Deutschland früher sehr bekannter Schriftsteller.»Wie war es bei Betty?«fragte Kahn.»Ich hasse Leichenbegäng nisse in Amerika, deshalb war ich nicht da. Hat der unvermeid liche Rosenbaum am Sarg geredet?«

«Er war nicht aufzuhalten. In Deutsch und sogar in sächsischem Englisch. In Englisch zum Glück kurz. Ihm fehlte die Suada.«»Dieser Mann ist die Nemesis der Emigranten«, sagte Kahn zu Frank.»Er ist ein früherer Rechtsanwalt und darf hier nicht

praktizieren, dafür redet er, wo er nur kann. Am liebsten bei Versammlungen. Kein Emigrant kommt ohne Rosenbaums sal bungsvolle Worte ins Krematorium. Er drängt sich überall ein, ungefragt. Er zweifelt nie daran, daß man ihn dringend braucht. Wenn ich einmal sterben sollte, würde ich versuchen, es auf hoher See zu tun, um ihm zu entgehen, aber er würde entweder als blinder Passagier auftauchen oder von einem Helikopter her unterpredigen. Er ist unvermeidlich.«

Ich sah Kahn an. Er war sehr beherrscht.»Er kann an meinem Grabe predigen«, sagte Holzer düster.»In Wien, wenn es frei wird. Am Grabe eines verhinderten, ältlichen jugendlichen Lieb habers mit einer Glatze.«

«Für Glatzen gibt es Perücken«, sagte ich.

Holzer war 1932 das gewesen, was man ein Matinee-Idol nennt. Ein natürlicher, frischer, talentierter jugendlicher Liebhaber, der die seltenen Eigenschaften von Talent und glänzendem Aussehen vereinigt hatte. Jetzt war er fünfzehn Pfund schwerer, hatte eine Glatze bekommen, war selbst als Extra bei den englischen Thea tern abgewiesen worden, und seine Mißerfolge hatten ihn zu einem grämlichen Misanthropen gemacht.

«Ich kann mich meinem Publikum nicht mehr zeigen«, erklärte er.»Ihr Publikum ist auch zwölf Jahre älter geworden«, sagte ich. Er wischte das beiseite:»Es hat mich aber nicht altern sehen. Es ist nicht mit mir zusammen älter geworden. Es erinnert sich an mich nur als den Holzer von 1932.«

«Sie sind komisch, Holzer«, sagte Frank.»Das ist doch kein Problem. Sie wechseln hinüber ins Charakterfach, fertig.«

«Ich bin kein Charakterschauspieler. Ich bin der ausgesprochene jugendliche Liebhaber.«

«Schön«, erwiderte Frank ungeduldig.»Dann werden Sie ein Held, oder wie man das im Theaterjargon nennt. Meinetwegen ein älterer Held. Auch Cäsar hatte eine Glatze. Spielen Sie den König Lear!«

«Dafür bin ich nun doch nicht alt genug, Herr Frank.«

«Mann!«sagte Frank.»Das ist doch kein Problem. Ich war vier undsechzig Jahre alt, in voller Schaffenskraft, wie man so sagt, als man 1933 meine Bücher verbrannte. Jetzt werde ich siebenundsiebzig. Ich bin ein Greis, der nicht mehr arbeiten kann. Mein Vermögen besteht aus siebenundachtzig Dollar. Sehen Sie mich an!«

Frank war so deutsch, daß ausländische Verleger, die hier und da einmal eine Übersetzung von ihm brachten, das nicht zum zwei tenmal versuchten — die Auflagen blieben liegen. Frank konnte auch kein Englisch lernen, er war auch dazu zu deutsch. Er lebte mühselig von gelegentlichen Vorschüssen und Zuwendungen.»Ihre Bücher werden nach dem Kriege wieder aufgelegt wer den«, sagte ich.

Er sah mich zweifelnd an.»In Deutschland? Nach zwölf Jahren nationalsozialistischer Erziehung?«

«Gerade deshalb«, sagte ich und glaubte es nicht.

Frank schüttelte den Kopf.»Ich bin vergessen«, sagte er.»Die drüben brauchen andere Schriftsteller. Nicht mehr uns.«

«Gerade Sie!«

«Ich? Ich hatte 1933 noch viele Pläne«, sagte Frank leise.»Jetzt habe ich keine mehr. Jetzt bin ich alt. Es ist furchtbar. Man glaubt es so lange nicht, bis man es ist. Jetzt weiß ich es. Wissen Sie, seit wann? Seit ich zum erstenmal gemerkt habe, daß der Krieg für die Nazis verloren ist und daß man vielleicht zurüdc- gehen kann.«

Keiner antwortete. Ich blickte aus dem Fenster. Draußen leuch tete der Winterhimmel, und das Getöse der Lastkraftwagen ließ das Zimmer leise zittern. Dann hörte ich, wie Frank und Holzer sich verabschiedeten.

«Welch ein Morgen«, sagte ich zu Kahn.»Welch ein strahlender Tag!«

Er nickte.»Sie haben natürlich gehört, daß Carmen geheiratet hat?«

«Von Tannenbaum. Aber in Amerika wird man leicht geschie den.«

Kahn lachte.»Mein lieber Robert! Sonst noch ein Trost?«

«Nein«, sagte ich.»Ebensowenig wie für Holzer.«

«Und ebensowenig wie für Frank?«

«Das ist ein verdammter Unterschied! Sie sind keine fünfund siebzig Jahre alt.«

«Haben Sie gehört, was Frank gesagt hat?«

«Ja. Er ist fertig. Und er weiß nicht, wohin. Er ist alt geworden, ohne es zu merken. Wir sind es nicht.«

Mir fiel das disziplinierte und doch zerfahrene Wesen Kahns auf. Ich schob es auf Betty und Carmen. Es würde in kurzer Zeit Vor beigehen.»Seien Sie froh, daß Sie nicht bei Bettys Trauerfeier waren«, sagte ich.»Es war scheußlich.«

«Sie hat Glück gehabt«, erwiderte Kahn nachdenklich.»Sie ist zur rechten Zeit gestorben.«

«Meinen Sie?«

«Ja. Stellen Sie sich vor, sie hätte zuriidcgehen können. Sie wäre vor Enttäuschung krepiert. So ist sie in Erwartung gestorben. Ich weiß, sie war zum Schluß verzweifelt, aber ein kleiner Funke Erwartung glimmte wohl noch. Erwartung hat ein sehr zähes Leben.«

«Wie die Hoffnung.«

«Hoffnung ist schon anfälliger. Das ist so, wie wenn das Flerz noch schlägt, während das Gehirn schon gestorben ist.«

«Machen Sie sich das Leben nicht schwerer als nötig?«

Er lachte.»Irgendwann hört selbst für Automaten die Kontrolle auf. Sie explodieren nicht, sie bleiben stehen.«

Ich merkte, daß wenig mit ihm zu machen war. Er drehte sich im Kreise wie ein Hund, der Verstopfung hat. Jedes, auch das verhüllteste Zeichen von Trost spürte er mit seinem angespann ten und wachen Intellekt, bevor es noch geäußert wurde, und lehnte es ab. Man mußte ihn allein lassen. Ich spürte auch, daß ich selbst müde wurde. Wenig ermüdet ja so sehr als im Kreise zu rennen, und nur eines ist noch ermüdender: jemandem dabei zu folgen.

«Bis morgen, Kahn«, sagte ich.»Ich muß ins Bildergeschäft. Wo zu haben Sie gerade Leute wie Holzer und Frank geholt? Sie sind doch kein Masochist.«