«Die beiden waren bei Bettys Trauerfeier. Haben Sie sie nicht ge sehen?«
«Nein. Es war dort voll von Menschen.«
«Sie waren da und kamen dann zu mir, um sich aufzuheitern. Ich fürchte, ich habe sie im Stich gelassen.«
Ich ging. Es war fast wie eine Erlösung, in die, wenn auch etwas barocke, so doch klare, geschäftliche Atmosphäre von Silvers zu gelangen.
«Geht dein Bekannter von der 57. Straße nicht bald einmal auf Winterurlaub?«fragte ich Natascha.»Nach Florida, Miami oder Palm Beach? Ist er nicht lungenkrank, hatte er nicht schon eine Herzattacke, Asthma oder eine der Krankheiten, für die das Klima von New York zu rauh ist?«
«Er verträgt keine Hitze. Nicht diese Waschküchenatmosphäre im Sommer.«
«Das nützt uns jetzt nichts. Wie schwer es ist, als armer Mensch in Amerika der Liebe zu pflegen! Ohne eigenes Appartement ist es fast unmöglich. Das Land muß voll von trostlosen Onanisten sein. Huren habe ich in diesen sterilen Breiten auch noch nicht ge sehen. Hünenhafte Polizisten, die gerade wegen ihrer Statur vom Militärdienst dispensiert worden sind, fangen diese schwachen Ersatzstecklinge der Erotik auf den Straßen wie Hundefänger herrenlose Mopse und bringen sie vor verständnislose Richter, die sie zu hohen Strafen verdonnern. Wo findet der Sex nur statt?«
«In den Autos.«
«Und wenn man kein Auto hat«, sagte ich und vermied es, an den geräumigen Rolls-Royce mit der eingebauten Bar zu denken
— vielleicht konnte Fraser nicht selbst fahren, und der Chauf feur war mein Schutzengel.»Was tun alle diese kräftigen jungen Leute, wenn es keine Bordelle gibt? In Europa schwärmen die Huren aller Preislagen wie Zugvögel durch die Straßen. Hier habe ich noch keine gesehen. Nicht einmal ein öffentliches Pissoir. Glaubst du, da sei ein Zusammenhang? In Paris stehen diese trauten Schilderhäuschen alle paar hundert Meter wie Bastionen aus Blech an den Straßen und werden fleißig benutzt. Die Damen der Nacht fliegen bereits um elf Uhr morgens aus, und das Land kennt keine Psychiater und kaum Nervenzusammenbrüche. Hier hat fast jeder einen Psychiater, und es gibt keine Pissoirs und Huren nur über geheime Telefonnummern für die Wohlhaben den. Was machen die ärmeren Leute, zwischen Polizeiverboten, keifenden Wirtinnen, frommen Presbyterianern und Gendarmen im Winter, was tun sie ohne Auto, dieser letzten Zuflucht zusam mengekrümmter Liebe?«
«Sie leihen sich eins.«
Ich saß in einem wackeligen Sessel, der mit Plüsch derselben Far be überzogen war wie die Möbel in der Halle. Der mysteriöse Besitzer des Hotels mußte vor dreißig Jahren einen Plüschwaggon überfallen und beraubt haben, in dem außerdem auch verbotener Whisky war, denn anders war es kaum zu erklären, daß das ganze Hotel von unten bis zum Dach in dieser wüsten Farbe aus gestattet und gleichzeitig mit dunklen Whiskyflecken iibersät war. Natascha lag auf dem Bett. Auf dem Tisch vor uns standen die Reste unseres Abendessens, herübergeholt von dem Trost aller Leute ohne Familie und ohne Küche: dem amerikanischen Deli katessenladen, dieser großartigen Einrichtung, in der man heiße Hühner vom Rost, Schokoladenkuchen, Wurstaufschnitt, sämt liche Konserven, luxuriöses Toilettenpapier, Dillgurken, roten Kaviar, Brot, Butter und Heftpflaster, wo man kurzum alles kaufen konnte, außer Präservative. Präservative bekam man in der anderen amerikanischen Einrichtung, der Kombination von Apotheke und Restaurant, dem Drugstore, wo sie einem von einem weißgekleideten Besitzer verschwörerisch ausgehändigt wurden, als sei er ein abgefallener katholischer Priester, der so eben einen symbolischen Kindsmord begehe.
«Möchtest du ein Stück Schokoladenkuchen zu deinem Kaffee?«fragte ich.
«Ein großes Stück. Und schon vor dem Kaffee. Der Winter macht gefräßig. Wenn Schnee auf den Straßen liegt, ist Schokoladen kuchen wie Medizin.«
Ich stand auf, holte die elektrische Kochplatte aus ihrem Versteck im Koffer und setzte den Aluminiumkessel mit Wasser auf. Dazu zündete ich mir eine White-Owl-Zigarre an, damit der Duft des Kaffees nicht allzu stark auf den Korridor dringe. Es bestand keine Gefahr, obschon Kochen im Zimmer verboten war, da sich niemand darum kümmerte. Aber wenn Natascha da war, war ich vorsichtig. Es konnte sein, daß der unsichtbare Besitzer des Ho tels durch die Gänge schlich. Er hatte das nie getan, gerade das aber machte mich vorsichtig. Dinge, die niemals geschehen konn ten, waren in meinem Leben zu oft passiert, das war eines der ungeschriebenen Gesetze der Emigration.
Als ich den Kaffee aufgoß, klopfte es an der Tür, leise und hart näckig.»Versteck dich unter meinem Mantel«, sagte ich.»Beine und Kopf auch. Ich will nachsehen, was los ist.«
Ich schloß auf und öffnete die Tür einen Spalt. Draußen stand die Puertoricanerin. Sie legte einen Finger an die Lippen.»Polizei«, flüsterte sie.
«Was?«
«Unten. Drei Mann. Achtung. Vielleicht kommen sie herauf. Hotel durchsuchen. Vorsicht!«
«Was ist denn los?«
«Sind Sie allein? Keine Frau hier?«
«Nein«, sagte ich.»Ist die Polizei deswegen hier?«
«Weiß nicht. Glaube wegen Melikow. Aber man weiß nicht. Vielleicht durchsuchen. Frau mitnehmen, wenn finden.«
Ins Badezimmer, dachte ich rasch. Aber wenn die Polizei eine Razzia machte und Natascha im Badezimmer fand, dann war das noch belastender. In die Halle nach unten konnte sie nicht, wenn die Bullen schon da waren. Verdammt, dachte ich, was tun? Plötzlich stand Natascha neben mir. Wie sie so rasch angezogen sein konnte, war fast ein Wunder. Sie hatte sogar ihre kleine Kappe auf dem Haar und war kühl und ruhig.»Melikow«, sagte sie.»Sie haben ihn geschnappt.«
Die Puertoricanerin machte Zeichen.»Schnell! Sie zu mir in Zim mer, Pedro hier. Verstehen?«
«Ja.«
Natascha schaute sich rasch um.»Bis später. «Sie folgte der Frau. Aus dem Schatten des Korridors tauchte Pedro, der Mexikaner, auf. Er knöpfte seine Hosenträger fest und band seine Krawatte.»Buenas Tardes, Senor. Besser so!«
Ich verstand. Wenn die Polizei kommen sollte, war Pedro mein Gast, Natascha der der Puertoricanerin. Eine viel einfachere Lö sung als die dramatische der Angelsachsen, durch Klosettfenster und über vereiste Dächer zu fliehen. Eine lateinische Lösung.»Setzen Sie sich, Pedro«, sagte ich.»Eine Zigarre?«
«Danke. Lieber eine Zigarette. Vielen Dank, Senor Roberto. Ich habe eigene.«
Er war nervös.»Papiere«, murmelte er.»Schwierig. Vielleicht kommen sie nicht.«
«Haben Sie keine? Sie können sie vergessen haben.«
«Schwierig. Haben Sie gute?«
«Ja. Ganz gut. Aber wer sieht gerne die Polizei?«Ich war selbst sehr nervös.»Wollen Sie einenWodka, Pedro?«
«Zu stark in dieser Situation. Besser, klar zu sein. Aber einen Kaffee sehr gerne. Senor!«
Ich schenkte den Kaffee ein. Pedro trank hastig.»Was ist mit Melikow?«fragte ich.»Wissen Sie etwas davon?«
Pedro schüttelte heftig den Kopf. Dann legte er ihn auf die Seite, schloß ein Auge, hob die Hand und hielt sie an die Nase, als schnupfte er etwas hinein. Ich begriff.»Glauben Sie das?«
Er hob die Schultern und öffnete die Hände. Ich erinnerte mich an die Andeutungen Nataschas. Was konnte ich tun?» Nichts«, antwortete Pedro, dessen Augen mir gefolgt waren.»Den Mund halten«, sagte Pedro, während seine Hände flatterten.»Sonst wird es nur schlimmer für Melikow.«
Ich packte die Kochplatte in den Koffer und sah mich um, ob Na tascha noch irgendwelche Spuren hinterlassen hatte. Den Aschen becher mit zwei rotgefärbten Mundstücken leerte ich durch das geräuschlos geöffnete Fenster. Dann schlich ich zur Tür, öffnete sie und horchte nach unten.
Das Hotel war still wie ein Grab. Von der Halle her hörte ich Gemurmel. Dann kamen Schritte die Treppen herauf. Ich er kannte sie sofort als Polizei. Darin kannte ich mich aus, ich hatte sie in Deutschland, Belgien und Frankreich oft genug gehört. Ich schloß rasch die Tür.»Sie kommen.«