Pedro ließ seine Zigarette fallen.»Sie gehen nach oben«, sagte ich.
Pedro hob seine Zigarette auf.»Zu Melikows Zimmer?«
«Das werden wir sehen. Warum glauben Sie, daß die Polizei eine Haussuchung machen könnte?«
«Um etwas zu finden.«
«Ohne Haussuchungsbefehl?«
Pedro hob wieder die Schultern.»Befehl? Bei armen Leuten?«»Natürlich. «Das hätte ich mir denken können. Warum sollte es in New York anders sein als irgendwo in der Welt? Und ich soll te das wahrhaftig wissen. Meine Papiere waren gut, aber nicht sehr gut. Pedros wahrscheinlich ähnlich. Auch bei der Puertori canerin war ich nicht sicher. Sicher war ich nur bei Natascha. Man würde sie entlassen. Bei uns ändern konnte das noch etwas dauern. Ich schnitt ein großes Stüde von unserem Schokoladenkuchen ab und stopfte es in mich hinein. Die Verpflegung auf allen Polizeistationen der Welt war schauerlich.
Ich blickte aus dem Fenster. Gegenüber waren ein paar Fenster erleuchtet.»Wo ist das Zimmer Ihrer Freundin?«fragte ich Pe dro.»Kann man es von hier aus sehen?«
Er kam heran. Sein gelodetes Haar roch nach einem süßlichen öl. Im Nacken hatte er die Narbe eines Furunkels. Er blinzelte nach oben.»Uber uns. Eine Etage höher. Man kann es von hier aus nicht sehen.«
Wir mußten ziemlich lange warten. Ab und zu horchten wir auf den Flur hinaus. Nichts rührte sich. Jeder, der im Hotel war, wußte anscheinend, daß etwas los war. Keiner kam nach unten. Endlich hörte ich die schweren energischen Schritte von oben kommen. Sie verloren sich nach unten. Ich schloß die Tür.»Ich glaube, die Polizei geht. Keine Haussudrung.«
Pedro lebte auf.»Warum lassen sie die Menschen nicht in Ruhe? Was tut schon ein bißchen Sdmupfen, wenn es einen glücklich macht? Im Krieg zerreißen sie Millionen mit Granaten. Hier ver folgen sie das weiße Pulver, als wäre es Dynamit.«
Ich betrachtete ihn aufmerksam, seine feuchten Augen mit dem bläulichen Weiß, und mir kam der Gedanke, daß er selbst schnupfen könnte.»Kennen Sie Melikow schon lange?«fragte ich.
«Nicht so sehr lange. Einige Zeit.«
Ich schwieg; was ging es mich an? Ich dachte darüber nach, ob man etwas für Melikow tun könnte. Da war nichts zu tun, am wenigsten von Ausländern mit etwas zweifelhaften Papieren.
Die Tür ging auf. Es war Natascha.»Sie sind weg«, sagte sie.»Mit Melikow.«
Pedro war aufgestanden. Die Puertoricanerin kam herein.»Komm, Pedro.«
«Vielen Dank«, sagte ich zu ihr.»Vielen Dank für Ihre Freund lichkeit.«
Sie lächelte.»Arme Leute helfen sich gern gegenseitig.«
«Nicht immer.«
Natascha küßte sie auf die Wange.»Vielen Dank, Raquel, für die Adresse.«
«Was für eine Adresse?«fragte ich, als wir allein waren.
«Für Strümpfe. Die längsten, die ich gesehen habe. Sie sind schwer zu finden. Die meisten sind zu kurz. Raquel hat mir ihre gezeigt. Fabelhaft.«
Ich mußte lachen.»Pedro war weniger unterhaltend.«
«Natürlich. Er hatte Angst. Er schnupft. Und er hat jetzt ein Problem: Er muß einen anderen Lieferanten suchen.«
«War Melikow einer?«
«Ein kleiner, glaube ich. Der Gangster, dem dieses Hotel gehört, hat ihn dazu gezwungen. Er wäre sonst herausgeflogen. Eine neue Stellung hätte er nie bekommen, er ist zu alt.«
«Kann man etwas für ihn tun?«
«Nichts. Das kann nur der Gangster. Vielleicht kriegt er ihn frei. Er hat einen sehr geschickten Rechtsanwalt. Und er muß etwas für ihn tun, damit Melikow ihn nicht belastet.«
«Woher weißt du das alles?«
«Von Raquel.«
Natascha schaute sich um.»Wo ist der Kuchen geblieben?«
«Flier. Was fehlt, habe ich gegessen.«
Sie lachte.»Der Hunger der Angst, wie?«
«Nein. Der Hunger der Vorsicht. Den Kaffee hat Pedro getrun ken. Willst du welchen?«
«Ich glaube, es ist besser, wenn ich gehe. Zweimal wird man nicht gerettet. Man weiß nicht, ob die Polizei nicht noch einmal kommt.«
«Gut. Ich bringe dich nach Hause.«
«Nein, bleib hier. Es kann sein, daß man unten noch einen Beobachter gelassen hat. Wenn ich allein komme, kann ich sagen, ich hätte Raquel besucht. Ziemlich abenteuerlich, wie?«
«Zuviel für mich. Ich hasse Abenteuer.«
Sie lachte.»Ich nicht.«
Ich brachte sie bis zur Treppe. Sie hatte plötzlich Tränen in den Augen.»Armer Wladimir«, murmelte sie,»arme herumge stoßene Seele.«
Sie ging rasch und sehr aufrecht die Treppe hinunter. Ich kehrte zurück in meine Bude und betrachtete die Unordnung. Dann räumte ich den Tisch auf. Das war etwas, was mich immer etwas melancholisch machte. Wahrscheinlich, weil nichts im Leben von Dauer war, nicht einmal ein verfluchter Schokoladenkuchen. In einer Anwandlung von plötzlicher Wut öffnete ich das Fenster und warf den Rest des Kuchens in den Flof. Mögen die Katzen ein Fest feiern, wenn meines schon vorbei war. Das Hotel schien ohne Melikow auf einmal leer zu sein. Ich ging hinunter. Nie mand war da. Hier mied man Plätze, wo die Polizei gewesen war, als hätte sie die Pest mitgebracht. Ich wartete eine Zeitlang und fing sogar an, in einem alten Heft von Time zu lesen, das ein Gast liegengelassen hatte, aber mich irritierte die Allwissenheit dieses Magazins, das mehr wußte als Gott selbst und das alles in fertigen kleinen Paketen und etwas preziös aufgemacht lieferte. Ich schlich durch die auf einmal verwaiste Halle und dachte dar an, daß man einen Menschen erst dann schätzt, wenn er nicht mehr da ist; eine verdammt triviale, darum aber um so nieder drückendere Wahrheit. Ich dachte an Natascha und daran, daß es nun schwieriger sein würde, sie in mein Zimmer zu schmuggeln. Ich wurde immer melancholischer und füllte mich wie eine Re gentonne bei einem Platzregen mit Selbstmitleid. Es war ein grauer Tag gewesen, ich war voll von vergangenen Abschieden, und dann dachte ich an die kommenden, und das machte mich ganz elend, weil ich keinen Ausweg wußte. Ich fürchtete mich vor der Nacht und meinem Bett und davor, daß die klebrigen Träu me mich begraben könnten. Ich holte meinen Mantel und ging durch die klirrende weiße Stadt, um mich müde zu machen. Ich suchte die Straßen, ich ging die ganze totenstille Fifth Avenue hinauf bis zum Central Park. Die Fenster links und rechts von der verlassenen Straße leuchteten wie Glassärge, als wäre vor den Auslagen ein Schauer von Eisregen gefroren. Ich hörte auf einmal meine Schritte und dachte an die Polizei im Hotel und dann an Melikow in irgendeinem Käfig, und dann wurde ich sehr müde und kehrte um. Ich ging schneller und schneller, weil ich ge lernt hatte, daß es manchmal die Trauer mindert, aber ich war zu müde, um zu merken, ob es so war oder nicht.
XXXII
Plötzlich ging alles sehr schnell. Die Wochen zerschmolzen wie der Schnee auf den Straßen. Ich hörte eine Zeitlang nichts mehr von Melikow. Dann war er eines Morgens wieder da.»Du bist frei«, sagte ich.»Ist alles vorüber?«
Er schüttelte den Kopf.»Ich bin frei gegen Kaution. Die Ver handlung kommt erst noch.«
«Kann man dir etwas nachweisen?«
«Es ist besser, wenn wir nicht darüber reden. Und es ist besser, wenn du nicht fragst, Robert. Wenn man nichts weiß und nichts fragt in New York, ist man am sichersten.«
«Gut, Wladimir. Du bist dünner geworden. Warum hat es so lange gedauert, bis du freigelassen worden bist?«
«Das soll deine letzte Frage gewesen sein. Glaub mir, Robert, es ist besser. Und meide mich.«
«Nein«, sagte ich.
«Doch. Und jetzt wollen wir einen Wodka trinken. Es ist einige Zeit vergangen, seit ich einen gehabt habe.«
«Du siehst nicht gut aus. Dünner und traurig. Hoffentlich wird sich das bald ändern.«
«Ich bin in der Haft siebzig geworden. Und mein verdammter Blutdruck ist zu hoch.«
«Dafür gibt es Mittel.«
«Robert«, sagte Melikow leise.»Gegen Sorgen gibt es nicht viele Mittel. Ich will nicht im Gefängnis sterben.«