Mir schien einen Moment, als habe es einen Kurzschluß von einer hundertstel Sekunde im Licht des Salons gegeben, so, als wäre das Licht nicht ausgegangen, sondern hin und her geschüttelt worden, doch gleich darauf brannte es wieder strahlend und ruhig. Es war ein Augenblick, in dem ein drohender, finsterer Wunsch, der Angst und Unmöglichkeit in sich trug, plötzlich mit einem un sichtbaren Ruck Realität wurde. Was Vriesländer mir anbot, war für mich nicht etwas, um Geschäfte zu machen. Es war die Mög lichkeit zurückzukehren, war das Geld, das ich dazu brauchte, mehr sogar, reichlich, genügend, um das Land zu erreichen, das wie eine schwarze Wolkenwand in meinen Träumen immer näher auf mich zugekrochen war. Ich stand unter den Kronleuch tern und starrte geblendet vor mich hin, ohne mehr zu sehen als eine unbestimmte, schwimmende Helligkeit unter meinen Augen. Ich brauchte noch Zeit, mich zu fassen. Es war, als wäre ich in eine Windhose geraten. Alles wirbelte jetzt um mich herum, Licht und Schatten, und dazu hörte ich Kahns Stimme.»Ihr Gulasch wird von der Köchin abgefüllt. Sie können es abholen in der Küche, und wir können dann fliehen. Wollen wir?«
«Was? Fliehen? Wann?«
«Wann Sie Lust haben. Gleich, wenn Sie wollen.«
«Ach so!«Ich verstand Kahn wieder.»Ich kann noch nicht«, sagte ich.»Ich habe noch ein paar Sachen zu erledigen. Ich muß noch bleiben, Kahn.«
Ich wollte mich sammeln, das ging am besten im Durcheinander der Gesellschaft. Ich wollte auch nicht mit Kahn reden, gerade jetzt nicht. Alles war noch zu unbestimmt, neu und schattenhaft groß.
«Gut«, erklärte Kahn.»Ich gehe. Ich kann es nicht mehr aushal- ten in dieser Brühe von Aufregung, Sentimentalität und Unge wißheit. Hundert geblendete Vögel flattern plötzlich gegen die Stäbe ihres Käfigs und entdecken auf einmal, daß sie nicht mehr aus Stahl sind, sondern aus gekochten Spaghettis. Jetzt wissen sie nicht, ob sie singen oder klagen sollen. Ein paar singen schon«, fügte er grimmig hinzu.»Bald werden sie wissen, daß da nichts zu singen ist, und daß man ihnen jetzt auch noch ihr Letztes ge nommen hat: das romantische Heimweh und den romantischen Haß. Zerstörung kann man nicht mehr hassen. Gute Nacht, Ro bert.«
Er war sehr blaß.»Ich komme vielleicht später noch vorbei«, sagte ich erschrocken.
«Tun Sie es nicht. Ich gehe schlafen. Mit zwei Schlaftabletten. Fürchten Sie nichts«, sagte er, als er mein Gesicht bemerkte.»Ich tue mir nichts an. Flaben Sie noch eine fröhliche Zeit auf dieser vermanschten Siegesfeier, die das genaue Gegenteil ist. Gute Nacht, Robert.«
«Gute Nacht, Kahn. Ich sehe morgen mittag bei Ihnen vorbei.*»Tun Sie das.«
Ich hatte ein schlechtes Gefühl und wollte ihm nachgehen, aber ich war zu verwirrt mit mir selber, mit der ganzen absurden, trostlosen Feier und mit dem, was Kahn zum Schluß noch gesagt hatte. Ich blieb sitzen und horchte achtlos auf Lachmann, der mir erklärte, daß er sicher wieder gesund würde, wie er das nannte; er habe seit vier Wochen ein zwar etwas stockendes, aber doch normales Verhältnis mit einer Witwe.»Alles das wird vorbei sein wie ein böser Traum«, erklärte er mit Augen, in denen das Weiße unterhalb der Iris zu sehen war.
«Dein katholischer Beruf auch?«fragte ich.»Die Rosenkränze und Heiligenfiguren?«
«Das werde ich später sehen. Vorläufig habe ich keine Eile. Ich bin der beste Reisende, den die Leute haben. Mit einem ändern Glauben hat man doch eine ganz andere Distanz und eine grö ßere Freiheit. Das kommt dem Geschäft mächtig zugute. Die Leute glauben einem auch mehr, weil man nicht aktiv beteiligt ist.«
«Du gehst also nicht zurück, wie?«
«In einigen Jahren vielleicht einmal. Zu Besuch. Doch das hat Zeit, viel Zeit.«
Ich sah ihn neidisch an.»Was warst du früher?«fragte ich.»Vor den Nazis.«
«Student und der Sohn wohlhabender Eltern. Gelernt habe ich nichts.«
Ich konnte ihn nicht fragen, was aus seinen Eltern geworden war, aber ich hätte gerne gewußt, was in seinem Kopf vorging. Kahn hatte mir einmal gesagt, daß die Juden kein Volk der Rache wären, vielleicht war etwas daran. Sie seien neurasthenisch wie ihr Haß, der zu rasch in Resignation umschlage, und, um das Gesicht vor sich zu wahren, in Verständnis für den Feind. Das war, wie jede extreme und allgemeine Behauptung, nur zum Teil zutreffend. Trotzdem hatte ich es mir gemerkt. Sie waren kein Volk der Rache, sie waren zu kultiviert und sublimiert. Ich war das alles nicht, dachte ich. Ich war allein, und ich kam mir wie ein Troglodyt vor. Aber da war etwas, über das ich nicht hinweg konnte, und es war so sehr da, daß alle Versuche, es zu umgehen oder wegzurücken, mich mit einer jähen, ungeduldigen Hitze füllten, die rasch unerträglich wurde. Es war eine mir selbst fast unverständliche Sache des Blutes, von der ich wußte, daß sie mich ins Verderben führen würde. Ich kämpfte gegen sie, ich versuchte ihr zu entkommen, und manchmal schien es mir, als gelänge es beinahe. Aber dann kam irgend etwas, eine Erinnerung, ein schwerer Traum oder, wie jetzt, eine Möglichkeit, diesem lautlos wartenden Verhängnis näherzukommen — und alle Illusionen des Entkommens wurden niedergedrückt wie eine Wolke von Schmetterlingen durch einen Eisregen. Ich wußte wieder, daß es da war und daß ich mich ihm stellen mußte. Es war in meinem Blut, und es verlangte Blut. Ich konnte versuchen, es zu ironisie ren und es zu bewitzeln und es im Licht des klaren Tages zu ver spotten: Es blieb, und nachts holte es schweigend alles wieder auf, was ich glaubte, in der Sonne zurückgedrängt zu haben.
«Seien Sie ein bißchen fröhlicher, Herr Robert«, sagte Frau Vriesländer.»Schließlich ist dies unser letztes Beisammensein als Emigranten.«
«Das letzte?«
«Bald löst sich doch alles auf. Die Zeit Ahasvers ist vorüber.«
Ich sah die brave, dicke Frau verdutzt an. Von wem hatte sie das nur? Ich wurde plötzlich ohne irgendeinen Grund heiter. Ich ver gaß Kahn und meine eigenen Gedanken, ich blickte in das rosige Gesicht reiner, gütiger Dummheit, und ich erfaßte mit einem Schlage, wie absurd diese Trauer- und Siegesaffäre mit ihrer harmlosen, prächtigen und rührenden Konfusion eigentlich war.»Sie haben recht, Frau Vriesländer«, sagte ich.»Wir sollten uns noch etwas aneinander freuen, ehe wir auseinanderstreben. Un ser gemeinsames Schicksal ist wie bei Soldaten nach dem Kriege.
Bald werden sie wieder Freunde, keine Kameraden mehr sein, es wird wieder so sein, wie es einst gewesen ist. Da sollten wir uns zum Abschied noch einmal an all dem freuen, was wir einander gewesen und nicht gewesen sind.«
«Das meine ich! Eben das meine ich! Rosy hat Ihnen Ihr letztes Gulasch schon zurechtgemacht. Mit Tränen. Und reichlich.«
«Das ist schön. Ich werde es sehr vermissen.«
Ich wurde immer heiterer. Es mag sein, daß Verzweiflung dabei war, aber wann war die nicht dabei. Mir schien, daß nichts Schlimmes passieren könnte, auch für Kahn nicht, gerade weil alles so offenkundig gewesen war, so voll Haken und Spitzen und Andeutungen, daß es einfach nicht möglich zu sein schien, daß es auch noch einträfe.
Ich nahm meinen Topf mit Gulasch und ging mit dem Gefühl nach Hause, das man manchmal hat, wenn man abstreifen kann, was wie ein Bleihimmel auf einem gelegen hat, und man über raschend das quellenhafte Leben in sich sickern spürt, jenseits von allem, was vielleicht noch kommen kann und kommen wird.
XXXIII
Ich fand Kahn am nächsten Mittag. Er hatte sich erschossen. Er lag nicht auf seinem Bett, sondern hatte in einem Stuhl gesessen, von dem er heruntergerutscht war. Es war ein sehr heller Tag, von einer fast schneidenden Klarheit. Die Vorhänge waren nicht zugezogen. Das Licht strömte ins Zimmer, und Kahn lag zusam mengesunken vor dem Stuhl. Es wirkte im ersten Augenblick so unwirklich, als könnte es nicht wahr sein. Dann hörte ich das Radio, das weitergespielt hatte, seit er tot war, und ich sah den zersplitterten Kopf. Das Gesicht war auf einer Seite heil erschie nen, als ich es von der Tür her sah. Erst als ich näher herankam, konnte ich die Zerstörung bemerken. Kahn lag auf der Seite, die weggeplatzt war.