Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich hatte gehört, daß man in solchen Fällen die Polizei anrufen müsse und daß nichts berührt werden dürfe, bis sie da war. Ich starrte eine Zeitlang auf das, was Kahn gewesen war, und hatte nur das taube Gefühl, daß es nicht wahr war. Was da am Boden lag, hatte mit Kahn so wenig zu tun wie die Wachsfiguren in seinem Schaukabinett mit den Figuren, die sie darstellten. Ich selbst fühlte mich wie eine Wachsfigur, die noch lebte. Dann erst, plötzlich, wachte ich auf zu mir selbst und zu einem entsetzlichen Wirrwarr von Schmerz und Reue. Ich glaubte fest, und es war unerträglich, daß ich schuld an Kahns Tod sei. Er hatte es mir so fürchterlich klargemacht am Abend vorher, daß er schon beinahe melodramatisch gewirkt hatte und so fremd für Kahns Charakter, daß ich mich nicht hätte beruhigen dürfen.
Und es wurde mir grauenhaft klar, wie einsam Kahn gewesen war und wie sehr er mich gebraucht hatte, als ich alle Zeichen übersehen hatte, weil ich sie übersehen wollte.
Es war nicht das erste Mal, daß ich einen Toten sah, und auch nicht das erste Mal, daß es ein toter Freund war, ich hatte viele gesehen und unter schauerlichen Umständen, aber dies war etwas anderes. Kahn war für mich und viele andere so etwas wie ein Denkmal gewesen, er schien mehr Eisen und Erz gehabt zu haben als jeder andere, er war ein Kondottiere gewesen und ein Don Quichotte, ein Robin Hood und ein Schinderhannes, der Retter aus einer Sage, ein Rächer und ein Kind des Glückes, ein Tänzer aus Stahl, tödlich und elegant wie ein witziger Sankt Georg, der die Drachen der Zeit übertölpelte und ihnen ihre Opfer ent riß.
Ich hörte auf einmal wieder das Radio und drehte es ab. Ich such te mit den Augen nach einem Brief oder irgend etwas, das er hin terlassen hatte; aber mir war sofort klar, daß ich nichts finden würde. Er war ebenso einsam gestorben, wie er gelebt hatte. Ich wußte auch gleich, warum ich nach einer Mitteilung suchte. Es war, um mich zu entlasten, um irgendeine Entschuldigung zu fin den, ein Wort von ihm, etwas, das mich freisprechen konnte. Ich sah nichts. Dafür sah ich den zerschossenen Kopf jetzt in seiner gräßlichen Wirklichkeit und doch auch so, als sähe ich ihn weit entfernt, wie durch eine starke Glasscheibe. Ich wunderte mich etwas verwirrt, warum er sich erschossen hatte, es ging mir sogar durch den Kopf, daß das keine Todesart für einen Juden sei, aber während ich es dachte, erinnerte ich mich daran, daß Kahn das gesagt haben könnte in seiner sarkastischen Art, daß es nicht wahr sei, und daß ich bereute, es überhaupt gedacht zu haben. Qualvoll überfiel mich der Schmerz wieder und das schlimmste Gefühl, das es gibt: Daß etwas für immer ausgelöscht ist, als wäre es nie gewesen, und daß es vielleicht durch meine Nach lässigkeit geschehen war.
Ich raffte mich schließlich zusammen. Ich mußte etwas tun. Mir fiel nichts anderes ein, als Ravic anzurufen. Er war der einzige Arzt, den ich noch kannte. Ich hob das Telefon vorsichtig ab, als wäre es auch tot und dürfe nicht mehr benützt werden. Ravic war in seinem Zimmer. Es war Mittag.
«Ich habe Kahn tot gefunden«, sagte ich.»Er hat sich erschossen. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Können Sie kommen?«
Ravic schwieg einen Augenblick.»Er ist sicher tot?«
«Sicher. Der Kopf ist zerschmettert.«
Ich hatte das hysterische Gefühl, daß Ravic überlegte, öb es dann nicht Zeit habe bis nach der Mittagsruhe oder dem Mittag essen; man denkt vieles und sehr rasch in einem solchen Augen- blidc.
«Tun Sie gar nichts«, sagte Ravic.»Lassen Sie alles, wie es ist. Und rühren Sie nichts an. Ich komme sofort.«
Ich legte den Hörer auf. Mir fiel ein, daß ich ihn abwischen sollte, damit er keine Fingerabdrücke zeige. Ich verwarf den Gedanken sofort, irgend jemand mußte Kahn ja gefunden und den Arzt be- nachrichtigt haben. Wie sehr das Kino unsere Art zu denken korrumpiert hat, dachte ich und haßte mich sofort, weil ich das dachte. Ich setzte mich auf einen Stuhl neben der Tür und warte te. Dann erschien es mir feige, so weit entfernt von Kahn zu sit zen, und ich setzte mich an den Tisch im Zimmer. Überall ent- dedtte ich Spuren von Kahns letzter Tätigkeit — einen verscho benen Stuhl, ein Buch, das geschlossen auf dem Tisch lag. Ich öffnete es und hoffte daraus Aufschluß zu gewinnen, aber es war weder eine Anthologie deutscher Dichter noch ein Band von Franz Werfel, sondern ein belangloser amerikanischer Roman. Das Schweigen, das keines war, weil der gedämpfte Lärm von draußen es so sonderbar machte, daß es da war und nicht da war, wurde drückend. Es schien sich in die schmale dunkle Edce unter dem Tisch neben dem Toten zurückgezogen zu haben und dort zu kauern, als warte es darauf, daß der lebende Lärm endlich verstumme und dem Toten Gelegenheit gebe, sich aus seiner zu sammengesunkenen, unbequemen Haltung auszustrecken, um wirklich zu sterben und nicht nur von einem hastigen Tod nieder gestreckt zu sein wie eine blutige Beute. Selbst das gelbe Licht schien stillzuhalten, paralysiert und im Fluge festgehalten durch etwas Unsichtbareres als es selbst und stärker, so wie alle Stille plötzlich stärker ist als das geschwindeste Leben. Ich glaubte einen Augenblick, die Blutstropfen auf den Fußboden fallen zu hören; aber ich brauchte mich nicht zu vergewissern, daß es nicht sein konnte. Kahn war tot, und es war unfaßbar, so wie selbst der Tod eines Kaninchens umfaßbar ist, weil es nicht gelingt, es je zu verstehen, da es zu nahe am eigenen Tod ist und ihn streift. Ravic kam leise herein, aber ich schreckte auf, als wäre er eine Dampfwalze. Er ging gleich zu Kahn hinüber und sah ihn an. Er beugte sich nicht herunter und rührte Kahn auch nicht an.»Wir müssen die Polizei benachrichtigen«, sagte er.»Wollen Sie dabei- sein, wenn sie kommt?«
«Muß ich das nicht?«
«Ich kann sagen, ich hätte ihn gefunden. Es gibt viele Fragen, wenn die Polizei kommt. Wollen Sie die vermeiden?«
«Jetzt nicht mehr«, sagte ich.
«Ihre Papiere sind in Ordnung?«
«Es macht nichts mehr.«
«Doch, es macht etwas«, sagte Ravic.»Und Kahn nützt es nichts mehr.«
«Ich werde bleiben«, erwiderte ich.»Es ist mir egal, ob die Poli zisten glauben, ich hätte ihn ermordet.«
Ravic sah mich an.»Glauben Sie das nicht selbst?«
Ich starrte ihn an.»Warum denken Sie das?«
«Es ist nicht schwierig zu erraten. Machen Sie sich darüber keine Gedanken, Ross. Wenn man alle Zufälle als Schicksal betrachten würde, könnte man keinen Schritt mehr tun.«
Er blickte in das starre Gesicht, das keiner von uns mehr erkannte.»Mir schien immer, daß er nicht wußte, was er im Frieden an fangen sollte.«
«Wissen Sie es denn?«
«Für einen Arzt ist es einfach. Menschen wieder zusammenzu flicken, damit sie im nächsten Krieg getötet werden können. «Er hob das Telefon ab und rief die Polizei an. Er mußte die Num mer und die Adresse mehrmals sagen.»Ja, er ist tot«, erklärte er.»Ja, gut! Wann? Gut. «Er legte den Hörer auf.»Sie kommen, so bald es geht. Sie haben viel zu tun, sagte der Sergeant. Morde gingen vor. Dies wäre nicht der einzige Selbstmörder in New York.«
Wir saßen und warteten. Wieder schien es, als hinge die Zeit tot zwischen uns. Ich entdeckte eine elektrische Uhr auf Kahns Radioapparat. Es war sonderbar, wenn ich dachte: Kahns Radioapparat und Kahns Uhr. Es war bereits ein Anachronismus, und es kam mir nicht ganz richtig vor. Besitz war mit Leben verbunden. Diese Dinge gehörten nicht mehr Kahn, weil er nicht mehr zu ihnen gehörte. Er hatte sie zurückgegeben an eine große Anonymität. Sie waren herrenlos geworden und trieben namenlos umher wie Gegenstände im All ohne Schwergewicht.»Bleiben Sie in Amerika?«fragte ich Ravic.
Er nickte.»Ich habe zweimal meine Prüfungen als Arzt wieder holen müssen, in Paris und dann hier. Wenn ich zurüdtginge, würde ich nicht überrascht sein, wenn man sie drüben noch ein mal verlangen würde.«