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Weiter kam er nicht. Der Schatten machte eine schnelle Bewegung, und in Brede breitete sich ein flammender Schmerz aus. Er griff an die Stelle, wo ihn etwas Spitzes getroffen hatte. Die Luft wurde ihm knapp, und als er versuchte, etwas zu sagen, brachte er nur ein dumpfes Gurgeln zustande. Seine Beine versagten ihm ihren Dienst. Der Schatten entfernte sich, wurde kleiner und kleiner. Dann kam die Dunkelheit, und um Brede herum verschwamm alles zu tiefer Schwärze.

25

Quantz staunte über La Mettries Furchtlosigkeit. Der Franzose setzte sich auf das Mäuerchen und hielt seine nackten Füße in den Brunnen. Er trug nur noch sein Unterzeug. Die anderen Kleider hatte er nebst seiner Perücke auf den Tisch geworfen.

»Stellen Sie sich kaltes Wasser vor und potenzieren Sie die Kälte hundertfach«, sagte er seelenruhig. »Dann wissen Sie, welchen Qualen meine Füße gerade ausgesetzt sind. Und gleich mein ganzer Körper.« Damit ließ er sich in das Loch hineinrutschen und gab ein erbärmliches Stöhnen von sich. »Mein philosophischer Verstand sagt mir, dass der menschliche Körper eine solche Kälte durchaus verträgt«, rief er zähneklappernd. »Wussten Sie, dass die nordischen Völker sogar in eisigem Wasser baden, weil sie sich davon die Stärkung ihrer Gesundheit versprechen? Geben Sie mir bitte einige der Rohre. Machen Sie schnell.«

Quantz gehorchte.

»Ich bitte Sie inständig, nicht zu vergessen, mir zu folgen«, rief der Franzose, holte dann noch einmal tief Luft und versank mitsamt der Stäbe. Quantz beugte sich über das Wasserloch. Im Schein der Lampe glaubte er einen Moment noch, La Mettries fahlen Kopf zu erkennen, doch dann war da nichts mehr. Das Wasser schwappte ein wenig hin und her und beruhigte sich wieder.

Jetzt, wo Quantz allein war, wuchs seine Beklommenheit ins Unermessliche. Sollte er es wagen? Unschlüssig schritt er eine Weile herum. Er ertappte sich bei dem hoffnungsvollen Gedanken, dass La Mettrie vielleicht sehr schnell unverrichteter Dinge zurückkehrte. Vielleicht hatte der Franzose feststellen müssen, dass es keinen Weg nach draußen gab. Dann würde Quantz das Eisbad erspart bleiben.

Doch nichts geschah. Die Wasseroberfläche hatte sich in eine bewegungslose Glasfläche verwandelt. Quantz verlor das Zeitgefühl. Wie lange war der Franzose schon fort? Zwei Minuten? Fünfzehn Minuten?

Schließlich gab er sich einen Ruck. Er zog sich die Schuhe von den Füßen, riss seinen Rock und das Jabot herunter, warf alles in die Ecke, nahm ein paar Stäbe und setzte sich wie der Franzose auf die Mauer. Was La Mettrie konnte, musste er auch schaffen.

Seine Füße schienen sofort zu Eisklumpen zu werden. Schlagartig verlor er jegliches Gefühl darin.

Kein Gefühl, kein Schmerz, dachte er. Und je schneller er ins Wasser sprang, desto früher war die Tortur vorüber.

War es wirklich nötig?

Ja!

Er spannte seine Muskeln an und ließ sich in die Schwärze gleiten. Die Kälte nahm ihm den Atem. Der Boden war nicht zu spüren, seine Füße fanden keinen Halt. Alles schrie in ihm, wieder aus diesem eisigen Grauen hinauszukommen. Er zwang sich, nach den Stäben auf dem Mauerrand zu greifen und sich vollends abzustoßen. Als das Wasser über ihm zusammenschlug, löste sich etwas von seinem Kopf. Es war die Perücke, die er vergessen hatte abzunehmen.

Quantz tastete an dem rauen gemauerten Stein entlang. Da war tatsächlich eine seitliche Öffnung, überraschend groß.

Noch einmal atmen. Er tauchte ein letztes Mal aus dem Loch auf. Stell dir vor, du müsstest eine lange Passage spielen, ohne Luft holen zu können. Er füllte seine Lunge, bis er das Gefühl hatte, sie würde platzen, dann stieß er sich nach unten. Die Augen fest geschlossen, tastete er sich durch das Loch und arbeitete sich weiter hinab.

Etwas griff nach ihm, und voller Panik riss er die Augen auf. Da war eine Gestalt in dem graugrünen Nebel, kaum mehr als ein Schatten.

La Mettrie!

War er tot? Trieb dort vor ihm seine Leiche?

Nein, jetzt bewegte er sich und zog ihn davon.

Quantz wurde bewusst, dass er immer noch die Rohre in der Hand hielt. Er schob sie nach oben zur Oberfläche und sog daran. Ein Schwall von Havelwasser füllte seinen Mund. Dann kam er auf die Idee, in das Rohr zu blasen, schließlich brach sich schlürfend Luft Bahn. Quantz sog sie gierig in seine Lungen. Der Franzose zog ihn immer weiter.

Als sie auftauchten, befanden sie sich mitten auf dem Fluss. Quantz konnte auf der Havelinsel vor den Palisaden einzelne Soldaten erkennen. Der Himmel über ihnen war von bläulichem Grau. Hinter der Stadt, die sich schwarz und hart vor dem letzten Licht abhob, musste gerade die Sonne untergegangen sein.

»Wir müssen noch einmal tauchen«, sagte La Mettrie. »Sonst sehen sie uns.«

Er zog Quantz hinunter, und gemeinsam schwammen sie dem jenseitigen Ufer entgegen. Plötzlich streiften Quantz’ Zehen den Untergrund. Er gewann Boden unter den Füßen. Sie liefen ans Ufer.

»Kommen Sie, ins Gebüsch«, zischte La Mettrie.

Sie waren ganz in der Nähe der Nuthe gelandet – dem schmalen Flüsschen, das der Heiliggeistkirche gegenüber in die Havel mündete. Das Ufer war mit kleinen Bäumen und Büschen bewachsen, hinter denen sie sich duckten.

»Ich dachte schon, Sie kommen gar nicht mehr«, sagte der Franzose. »Sie wollten mich doch nicht etwa im Stich lassen?«

»Ich dachte, Sie kommen zurück, weil Sie nichts herausgefunden haben.« Quantz wurde bewusst, dass er wie ein Feigling dastand.

»Und da haben Sie erst einmal darauf spekuliert, trocken zu bleiben, ich verstehe. Doch wir haben es geschafft, wir haben den Fluchtweg entdeckt. Jetzt können wir eindeutig beweisen, wie die Desertionen vonstattengehen. Das ist doch etwas. Dieser Brede wird seiner gerechten Strafe nicht entkommen.«

Eine Brise Abendwind kam vom Fluss her und hinterließ auf Quantz’ nasser Haut eine Kälte wie eine Eisschicht. Seine Rückenschmerzen kamen ihm in den Sinn, die ihn hin und wieder plagten. Wahrscheinlich spürte er sie nur deshalb nicht, weil die Intensität, mit der er fror, alles andere überdeckte. »Und wir gehen einem furchtbaren Tod entgegen, wenn wir weiter hier herumsitzen. Monsieur – ich glaube, es war keine gute Idee, den Weg der desertierenden Soldaten bis zuletzt zu verfolgen. Wie kommen wir denn nun in die Stadt zurück? Wir haben noch nicht einmal trockene Kleidung. Und selbst wenn wir ein Feuer machten, können wir uns in Unterhosen nicht in der Öffentlichkeit zeigen.«

»Diese Schwierigkeit hatten die flüchtenden Soldaten auch. Und es muss irgendeine Abhilfe geben. Lassen Sie mich überlegen. Denken wir logisch …«

»Etwas schneller bitte. Ich erfriere.« Quantz überfiel heftiger Schüttelfrost. Seine Glieder zitterten, seine Zähne klapperten. Er presste die Kiefer zusammen, bis die Muskeln schmerzten.

»Man hat ihnen Kleidung gegeben«, mutmaßte La Mettrie, dem die Kälte nicht das Geringste auszumachen schien. »Genau das ist es. Es wird eine Hütte oder ein anderes Versteck geben, wo trockene zivile Kleidung aufbewahrt wird. Aber wo?«

Quantz erhob sich. Er spürte den heftigen Drang, sich zu bewegen. Bewegung war das einzige Mittel gegen die Kälte.

»Wo Sie da schon stehen«, sagte der Franzose, »könnten Sie bitte mal nach einer Hütte oder etwas Ähnlichem Ausschau halten?«

Hinter dem Streifen von Büschen und kleinen Bäumen erstreckten sich sumpfige Wiesen an der Havel. Jenseits der Nuthe lag ein Gebiet voller wilder Weidenbäume und Wasserlöcher. Dort konnte sich leicht ein Versteck mit nützlichen Dingen für Flüchtlinge befinden.

»Es ist schon zu dunkel. Ich kann nichts erkennen«, sagte Quantz. »Und wollen Sie wirklich auf Strümpfen den Sumpf durchsuchen? Das wäre noch nicht einmal bei Tageslicht und in trockener Kleidung eine gute Idee.«