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Der Franzose antwortete nicht.

Mit einem Mal überkam Quantz ein Gefühl von tiefem Elend. Wenn sie nicht bald ins Trockene kamen, stand ihnen eine Nacht bevor, die ihnen vielleicht tatsächlich den Tod brachte. Zumindest ihm. La Mettrie schien ja aus härterem Holz geschnitzt zu sein. »Ich wünschte, Sie würden uns mit Ihrem stets heraufbeschworenen Denken bald aus dieser Lage befreien.«

»Ich versuche es ja.« Die schneidende Stimme des Franzosen war zum ersten Mal, seit Quantz ihn kannte, stumpf geworden. La Mettrie klang weinerlich. »Meinen Sie, mir macht es Freude, hier durchnässt herumzusitzen? Doch eine Möglichkeit gibt es. Die Landstraße ist nicht weit. Wir könnten uns dorthin durchschlagen. Vielleicht finden wir einen Bauern, der uns in Richtung Berlin mitnimmt.«

»Jetzt, in der anbrechenden Nacht? Ich glaube nicht, dass um diese Zeit jemand unterwegs ist.«

»Welche Wahl haben wir denn?«, fuhr La Mettrie auf. »Wir können es zumindest versuchen, oder nicht? Immer noch besser, als hier frierend herumzuhocken.«

Quantz seufzte. Der Ärger hatte ihn fast ein bisschen warm gemacht. »Also gut. Dann sollten wir keine Zeit verlieren. Kommen Sie.«

»Diese Preußen«, schimpfte La Mettrie. »Erst alles in Frage stellen, und dann kann es nicht schnell genug gehen.«

Unter seinen Fußsohlen spürte Quantz jedes Steinchen und jeden spitzen Halm. Weit entfernt schwebten Lichter in der Dunkelheit. Andere wanderten rechts davon, der Stadt zu, über die Lange Brücke. Das waren die Wachen, die auf der Flussüberquerung patrouillierten.

Weiter links, auf dem Ufer, das Potsdam gegenüberlag, befand sich die Akzisestelle, wo man vor der Überquerung der Havel kontrolliert wurde. Auch dort war ein heller Punkt zu erkennen. Das Zollhaus war sicher ebenfalls mit Soldaten besetzt.

»Vielleicht ist es besser, wenn wir uns einfach der Wache stellen«, sagte Quantz, dessen Füße so sehr schmerzten, dass er die Kälte fast vollkommen vergessen hatte. »Vielleicht können wir uns herausreden. Wir könnten sagen, Brede hätte uns einsperren wollen, weil wir seinem Geheimnis auf die Spur gekommen sind.«

La Mettrie stöhnte auf. »Herr Quantz, ich gebe zu, dass unsere Lage nicht gerade die beste ist. Trotzdem sollten Sie Ihren Verstand gebrauchen. Man wird uns nach wie vor des Verrats beschuldigen. Man wird glauben, wir beide seien Bredes Verbündete, seine Helfer. Sie stehen ohnehin unter Verdacht, und bei mir … Nun, Seine Majestät verzeiht mir ja meine freie Denkungsart, und er hat sich nicht an der Verfolgung beteiligt, die mir wegen meiner Schriften in ganz Europa widerfuhr. Aber Verrat – und auch schon den kleinsten Verdacht von Verrat – wird er nicht tolerieren.«

»Ihre Schriften über den Menschen, der eine Maschine sein soll«, brummte Quantz. »Diesen Unsinn müssen Sie mir einmal genauer erklären. Jeder weiß doch, dass der Mensch nicht nur aus Körper, sondern auch aus Geist besteht. Und dass das Denken, ja sogar die Seele völlig unabhängig von allem Körperlichen sind. Aber bitte tun Sie mir einen Gefallen, Monsieur. Erklären Sie es mir nicht jetzt. Wir haben gerade andere Probleme …«

»Probleme, ja«, sagte La Mettrie. »Sehen Sie den hellen Streifen dort hinten? Das ist die Straße. Es ist nicht mehr weit.«

Quantz schrie auf, als er wieder in etwas Spitzes trat. »Ich kann nicht so schnell. Und Sie haben vollkommen recht. Seine Majestät bringt mir angesichts meiner langen Verdienste bei Hofe immer noch großes Vertrauen entgegen. Doch wenn er befürchten muss, dass ich dem Feind in die Hände spiele … Ach, ich weiß es auch nicht …«

»Sie können nicht so gut nachdenken, weil Sie gerade müde, nass, schmutzig und voller Schmerzen sind, habe ich recht?«, fragte La Mettrie.

»Aber natürlich. Was soll diese Frage? Wenn ich bei einem Glas Wein zu Hause säße, mit Sophie in meiner Nähe … Dabei fiele mir das Denken leicht.«

»Sie glauben somit also, dass äußere Einflüsse – in diesem Fall der Wein und die angenehme Umgebung – auf Ihren Körper wirken, und dass diese Einflüsse wiederum die Qualität Ihres Denkens bestimmen? Dass Sie besser denken können, wenn sich Ihr Körper wohlfühlt? Dass Ihre Seele jubiliert, wenn Sie angenehme Dinge genießen?«

»Selbstverständlich. Aber ich wäre Ihnen sehr verbunden, Monsieur, wenn Sie mich jetzt nicht in eine philosophische Diskussion verwickeln würden. Ich wüsste lieber, wie wir den Rest der Nacht einigermaßen komfortabel verbringen können.«

»So glauben Sie also«, fuhr La Mettrie unbeirrt fort, »dass Ihr Denken, Ihre seelischen Empfindungen und Ihr Körper zusammenhängen wie, sagen wir, wie Glieder einer Kette? Seele und Weingenuss sind eins. Sie glauben, dass dies alles ein Gesamtes ist. Ja, das glauben Sie. Nur wenn das eine sich wohlfühlt, fühlt sich auch das andere wohl. Und die Quelle des Wohlbefindens ist also stets diese unsere Welt, keine jenseitige, geistige, andere. Denn der Wein ist ja nun nichts Jenseitiges …«

»Ich will nicht philosophieren«, schrie Quantz. Er beschleunigte seine humpelnden Schritte, aber die Schmerzen waren zu groß. Immerhin war die Straße jetzt viel näher.

La Mettrie gab nicht auf. »Der Mensch ist in all seinen Empfindungen somit einem einzigen, ich wiederhole, einem einzigen, und zwar vollkommen diesseitigen, also einem sich nur in dieser einen materiellen Welt befindlichen Prinzip unterworfen«, dozierte er munter weiter. »Er ist nur in dieser Welt existent. Und das gilt auch für seinen Geist und seine Seele – Dinge, die irgendwelche mittelalterlichen Hinterwäldler fälschlich als etwas vom Körper Getrenntes betrachten. Und somit unterliegt der Mensch rein diesseitigen Mechanismen. Er ist also was? Eine Maschine. Freilich ist er viel feiner und in der Mechanik der Beziehungen der einzelnen Teile viel, viel raffinierter aufgebaut als alle Maschinen, die die Menschen selbst zu bauen in der Lage sind. Er ist eben eine natürliche und keine künstliche Maschine. Seele, Geist, Empfindungen – nichts davon existiert unabhängig von Ihrem Körper, mein Freund. Und natürlich auch nicht unabhängig von dieser einen, diesseitigen Welt. Sie haben es gerade selbst bestätigt.«

»Gut, dass Sie mir das gerade auf einem nächtlichen Fußmarsch auf Strümpfen mitteilen.«

»Jeder Moment, in dem man große Erkenntnisse gewinnt, ist stets der richtige Moment.«

»Beeilen wir uns lieber«, sagte Quantz, obwohl er keine Ahnung hatte, was sie unternehmen würden, wenn sie die Straße erreicht hatten. Aber es war immerhin eine weitere Etappe ihrer Odyssee. Kannte er vielleicht jemanden, der am Weg nach Berlin wohnte und der sie die eine Nacht aufnehmen würde, ohne groß Fragen zu stellen? Morgen früh konnte man dann vielleicht jemanden in die Stadt schicken – zu Sophie, um Kleidung zu besorgen. Dann wären sie wenigstens in der Lage, sich, ohne Aufsehen zu erregen, auf der Straße zu zeigen.

Und dann galt es, sich eine Strategie zu ihrer Verteidigung zurechtzulegen. Er war unschuldig! Der König und sein verdammter Rat vom Kriminalgericht mussten das doch einsehen!

Jetzt war die Straße ganz nah. Und plötzlich war da ein Licht, als hätte jemand eine Lampe angezündet. Da waren Schatten. Zwei Kutschen. Männer. Ein metallener Helm blitzte auf.

»Zurück«, zischte La Mettrie und griff Quantz am Unterarm. Sie wollten loslaufen, doch auch hinter ihnen wurde es hell. Von allen Seiten ragten ihnen Bajonette entgegen. Sie waren von Grenadieren umkreist.

»Guten Abend, meine Herren. Sie haben sich Zeit gelassen.« Eine kleine Gestalt bahnte sich durch die Uniformierten. Die Narben auf ihrem Gesicht, die im Tageslicht weniger auffielen, wirkten im Schein der Flammen viel schärfer.

»In die Kutschen mit ihnen, wie befohlen«, rief der Rat den Soldaten zu.

»Monsieur Weyhe«, schrie La Mettrie. »Ich bin Kammerherr des Königs. Und ich bin nur Seiner Majestät verpflichtet.«

Die Grenadiere griffen den Franzosen und Quantz und führten sie zu den bereitstehenden Fahrzeugen.

»Ich glaube nicht«, sagte der Rat, »dass Sie in Ihrer Situation und in diesem Aufzug Seiner Majestät gegenübertreten möchten. Und ich denke nicht, dass Sie Wert darauf legen, die Nacht im Freien zu verbringen. In den Kutschen liegt trockene Kleidung für Sie bereit. Ich bin kein Unmensch.«