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Quantz und La Mettrie wurden getrennt. Jeder kam in eine eigene Kutsche. Als die Pferde anzogen, blickte Quantz aus dem Seitenfenster und versuchte, etwas zu erkennen. Doch die Nacht war nun ganz und gar hereingebrochen, es war stockdunkel. Nur die rötliche Lampe, die vorn auf dem Bock neben dem Kutscher hing, warf einen matten Schein auf den vorbeiwandernden Wegesrand. Quantz tastete auf den gegenüberliegenden Sitz und fand einen Rock, eine Hose, Schuhe und Tücher zum Abtrocknen. Weyhe hatte alles penibel vorbereitet.

Während er die trockenen Kleider anzog, kam ihm der Moment in den Sinn, als er im Schloss in Weyhes Zimmer gestanden und in den Frühlingstag hinausgeblickt hatte. Wie er mit allen Kräften versucht hatte, diesen Eindruck festzuhalten, weil er ihn bald gegen die ewige schmutzige Dunkelheit eines Gefängnisses eintauschen würde.

Jetzt hatte er wirklich noch diese Erinnerung. Zehre davon, sagte er sich. Gib dich ihr hin. Nichts sonst ist dir geblieben.

Er schloss die Augen und versuchte, sich die erträumten Landschaften von Arkadien in die Gedanken zu rufen, die Musik, die seine Phantasien stets begleitet hatte. Doch alles blieb stumm. Und jede Bewegung der Kutsche holte ihn in die schreckliche Wirklichkeit zurück.

Quantz schrak auf, als die Kutsche anhielt. Es herrschte immer noch tiefe Nacht, doch es brannten Fackeln. Jemand riss die Seitentür auf.

»Rauskommen«, befahl eine bellende Stimme.

Quantz, dem die Beine eingeschlafen waren, quetschte sich nach draußen und taumelte leicht. Er hatte kaum einen Blick in einen gepflasterten Innenhof erhaschen können, da kam jemand von hinten und verband ihm die Augen.

Wo waren sie hier? Das sah nicht nach einer Festung aus. Eher nach einer Residenz, nach einem kleinen Schloss. Die hohen Fenster, die Verzierungen an den Simsen …

Man drückte Quantz nach vorn, er kam ins Stolpern, fing sich und bewegte mechanisch seine Beine.

»Treppe abwärts«, warnte jemand.

Quantz blieb stehen und tastete sich mit dem Fuß nach vorn. Er stieg schmale Treppenstufen nach unten. Die Luft wurde feucht und muffig. Die Geräusche schienen von den Wänden enger Gänge widerzuhallen.

Man machte sich an seinen Händen zu schaffen und schob ihn auf eine Bank. Er setzte sich aufrecht und lehnte sich an. Sein Rücken traf Stein. Eine Metalltür fiel ins Schloss. Schritte entfernten sich.

»Herr Quantz?«

»Monsieur?«

»Ah, auf dieser Seite sind Sie. Hat man Ihnen auch die Augen verbunden und die Hände gefesselt?«

»Allerdings.«

La Mettrie schien nicht weit entfernt zu sein.

»Hat man uns in denselben Kerker gesperrt?«, fragte Quantz.

»Versuchen Sie es herauszufinden. Stehen Sie auf und kommen Sie her. Vielleicht gelingt es uns gemeinsam, die Fesseln zu lösen und etwas von diesem erneuten Gefängnis zu sehen. Obwohl ich nicht glaube, dass es besonders sehenswert ist.«

»Das ist sicher sinnlos, Monsieur.«

»Nun machen Sie schon. Wollen Sie etwa aufgeben?«

Was sollte das alles? Sie waren eingesperrt. Man hatte sicher dafür gesorgt, dass sie nicht fliehen konnten, selbst wenn sie sich ihrer Fesseln entledigten. Und warum kam La Mettrie nicht zu ihm?

Doch Quantz erhob sich vorsichtig und ging einen Schritt von der Bank weg. Dann noch einen. »Sagen Sie etwas, Monsieur. Sonst verliere ich die Richtung.«

»Hier bin ich, Maître de Musique. Hier.«

Quantz ging weiter in die Richtung, aus der die Stimme des Franzosen kam. Seine Beine wurden schwach. Er ging in die Knie und sank auf den harten Fußboden.

»Wo bleiben Sie?«, kam es von La Mettrie.

»Wie wäre es, wenn Sie den Rest der Strecke zurücklegen würden und mir entgegenkämen? Oder wir lassen es ganz.«

»Was ist mit Ihnen? Können Sie nicht mehr?«

Quantz streckte die Beine aus. Seine Füße berührten etwas, das sich weich anfühlte. Wie ein gefüllter Sack oder ein Bündel. Als er noch einmal dagegentrat, hörte er ein Stöhnen.

»La Mettrie, sind Sie das?«, fragte er.

»Was meinen Sie?«

Quantz rutschte auf dem Hosenboden weiter. Etwas bewegte sich auf dem Boden vor ihm.

»Wir sind nicht allein hier drin«, sagte er leise.

Das Bündel oder vielmehr der Mensch, der das Bündel war, schien Quantz entgegenzukriechen. Jetzt war sein Atmen zu hören, so nah war er.

»Wer ist da?«, fragte Quantz.

»Hier bin ich«, kam es von dem Philosophen.

»Ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie still sein könnten.«

»Monsieur, ich muss doch sehr bitten.«

»Scht!«

Endlich schien La Mettrie zu verstehen und hielt den Mund. Finger aus dem Dunkel betasteten plötzlich Quantz.

»Hallo?«, sagte er. »Sagen Sie etwas. Nicht Sie, La Mettrie. Hier ist noch jemand …«

Die tastenden Finger fuhren über Quantz’ Rock. Etwas raschelte. War das Papier? Was geschah da nur?

Der andere Gefangene oder wer auch immer es war, entfernte sich. Quantz streckte die Beine, um wieder Kontakt herzustellen. Da waren laute Schritte zu hören. Am Rand von Quantz’ Augenbinde erschien Helligkeit. Metall kreischte. Quantz wurde grob gepackt und emporgehoben. Man löste die Fesseln, riss an seinem Kopf – und er konnte sehen.

Er stand in einem Kerker. Keine Mannslänge entfernt war Rat Weyhe damit beschäftigt, La Mettrie zu befreien. In einer Ecke lag der andere Gefangene. Es war Andreas. Fast hätte er ihn nicht erkannt. Er trug keine Livree, sondern einen hellgrünen, stark verschmutzten Rock und keine Perücke. Er blickte teilnahmslos vor sich hin.

Hinter dem Rat waren drei Männer in Zivil zu erkennen. Sie trugen Fackeln und waren mit Säbeln bewaffnet. »Den Herren geht es gut«, sagte Weyhe. »Umso besser. Eine intakte Gesundheit ist wichtig, wenn man seine Haftstrafe antritt. Wobei ich allerdings nicht weiß, ob es der Richter bei einer Haftstrafe belässt. Vielleicht führt man Sie ja auch zum Galgen. Das zu entscheiden ist jedoch Aufgabe des Gerichts.«

»Dort ist Andreas«, sagte Quantz. »Sehen Sie ihn, Herr Rat? Ich habe ihn nicht ermordet, wie Sie es mir vorwerfen. Nehmen Sie das doch zur Kenntnis.«

Weyhe schien der Einwand nicht im Geringsten zu interessieren. »Bitte stellen Sie sich gerade hin. Ein Herr wird Ihnen einen Besuch abstatten, in dessen Gegenwart Sie sich zu benehmen haben.«

»Herr Rat, haben Sie nicht gehört, was der Maître de Musique gesagt hat?«, rief La Mettrie. »Ihr ganzes Verdachtsgebäude stürzt in sich zusammen. Andreas Freiberger lebt, und deswegen …«

Aus dem Gang hinter den Eisengittern näherte sich ein Mann. Das Licht der Fackeln schienen sein schwarzer Bart und seine ebenso dunkle Perücke zu schlucken. Dafür glänzten seine goldenen Rockknöpfe und die silbernen Tressen. Der Stoff leuchtete rosa. Für einen Moment hielt Quantz ihn für einen Offizier, doch die Farben passten zu keiner Uniform. Jedenfalls zu keiner preußischen.

Als er den Kerker betrat, verbeugte sich Weyhe ehrerbietig. »Darf ich vorstellen«, sagte er, als er wieder Haltung angenommen hatte. »Graf Bernes.«

»Der Gesandte der Kaiserin in Preußen?«, entfuhr es La Mettrie.

»Sozusagen die ganze Macht der Kaiserin von Österreich hier in diesem kleinen Land«, ließ der Graf mit einer volltönenden Bassstimme vernehmen. Er sprach mit dem weichen Akzent, der typisch für die Wiener war. Quantz hatte den Grafen mehrmals im Publikum der Oper gesehen und sogar gelegentlich mit ihm geplaudert. Er war ihm stets sympathisch erschienen. Ihm wurde klar, dass sie sich nicht in einer Festung Seiner Majestät des Königs befanden, sondern in der Berliner Residenz des Botschafters. Eines Botschafters, mit dem Weyhe auf sehr vertrautem Fuß zu stehen schien.