Die Soldaten grüßten ihn, als er das Tor durchschritt und wie ein Spaziergänger, der seinem Drang nach Bewegung nachgibt, auf dem äußeren Weg weiterging. Auch hier säumten Linden die schmale Straße. Weyhe sog den herrlich süßen Duft ein. Gleichzeitig zählte er die Stämme. Am fünften stand ein Mann, der auf etwas zu warten schien. Er war ärmlich gekleidet. Ein Tagelöhner, der auf einen Auftrag wartete.
Weyhe blieb wie zufällig stehen. Eine Weile schwiegen beide. Erst als zwischen den anderen Spaziergängern eine Lücke entstand, sagte Weyhe: »Der Dienst ist hart …«
»… doch süß ist die Ehre«, vollendete der Mann, griff unter sein Wams und holte ein Ledersäckchen hervor.
Weyhe nahm es und lächelte, als er dessen Schwere spürte. Er konnte sich nicht beherrschen und öffnete es. »Habsburgische Gulden?«, zischte er. »Was soll das? Will Er mich veralbern? Sag Er seinem Herrn, dass ich das nächste Mal preußische Taler will, verstanden?«
Der Mann nickte, ohne etwas zu sagen, und ging davon. Weyhe band den Riemen des Säckchens wieder zusammen und verstaute das Geld in seiner Tasche.
Habsburgische Gulden … Da konnten sie ihm ja gleich ein Schild um den Hals hängen: Hier steht der Mann, der für die Kaiserin spioniert!
Er war so in seine Gedanken vertieft und mit der Unterbringung des Geldes beschäftigt, dass er fast in die beiden Uniformierten gelaufen wäre, die wie aus dem Boden gewachsen vor ihm standen.
»Ist Er der Rat Weyhe?«
»Dumme Frage. Schert Euch fort.«
»Mitkommen«, sagte der Soldat und trat ihm in den Weg.
»Seid Ihr verrückt geworden, mir Befehle zu geben?«
Die Grenadiere packten ihn. Weyhe versuchte, sich loszumachen, doch einer der Soldaten holte aus und schlug zu.
»Weg mit Euch! Was fällt Euch ein? Ich bin Rat Weyhe! Der Vertraute des Königs! Ich bringe Euch nach Spandau!« Er versuchte loszukommen. Der Stoff seines Rocks zerriss. Etwas fiel zu Boden. Das Ledersäckchen.
»Lasst mich. Da liegt mein Geld! Wollt Ihr mich berauben?«
Ein Zivilist in grauem Rock trat hinter einer Linde hervor und bückte sich nach dem Säckchen. Weyhe versuchte noch einmal, sich aus dem Griff der Soldaten zu entwinden. Der Mann hatte schon einige Münzen aus dem Säckchen geholt.
»Gulden«, sagte er. »Ein ganzes Vermögen. Das passt.«
Er gab den Grenadieren einen Wink. Sie zogen den Rat davon. Eine Kutsche kam herangefahren. Der Soldat öffnete den Schlag und schob Weyhe hinein. Der Rat drehte sich um, und erst jetzt erkannte er das Gesicht des Zivilisten.
Es war Samuel von Cocceji. Der Justizminister des Königs.
27
Eine Woche später war der Frühling mit einer solchen Kraft aufgeblüht, dass man glauben konnte, der Sommer beginne schon. Selbst die Nächte waren so mild, dass sie Quantz an seine Zeiten in Italien erinnerten.
Er stand an der Seite Seiner Majestät auf der großen Schlossterrasse. Gemeinsam blickten sie über die Blütenpracht des abendlichen Parks. Die Vögel lärmten in den hohen Bäumen, die das Gelände weit hinten abschlossen.
Vorsichtig tapsende Schritte näherten sich auf dem Kies. Es waren die beiden Hunde Biche und Alcmene.
»Das System, das dieser junge Lakai entwickelt hat, hätte die Technik der Chiffrierung in meinen Kanzleien tatsächlich revolutioniert«, sagte der König. »Unglaublich, wie begabt Freiberger gewesen sein muss.«
»Begabt und mutig«, fügte Quantz hinzu. »Und er glaubte wohl immer, die Menschen um ihn herum müssten genauso begabt sein wie er. So stellte er uns auf seine Weise die schwierigsten Aufgaben.«
»Haben Sie den Zettel noch, den er Ihnen schrieb?«
»Selbstverständlich, Majestät. Ich hüte ihn wie meinen Augapfel.«
»Zweiunddreißig Noten. Zwei Noten ergeben je einen Buchstaben. Sechzehn Buchstaben also. Buchstaben, die es in sich haben.«
»›Montag Mittag JTor‹«, zitierte Quantz die Transkription. »Er muss eine Unterhaltung zwischen Graf Bernes und Rat Weyhe belauscht und dabei Ort und Zeit der Übergabe der Belohnung erfahren haben. Und da es in Potsdam nur ein Tor gibt, das mit J beginnt …«
»Gewesener Rat«, korrigierte der König.
»Sehr richtig. Gewesener Rat.«
»Es wird Zeit, lieber Quantz. Gehen wir hinein. Sie wissen, heute gibt es etwas Besonderes.«
»Ein neues Konzert, Majestät. Nach so langer Zeit.«
Friedrich lächelte. »Nicht nur das. Ich habe mir erlaubt, eine kleine Überraschung vorzubereiten.«
Sie betraten das Musikzimmer von der Gartenseite her. Die Musiker standen schon an ihren Plätzen. Es war die übliche Besetzung. Nur Carl Philipp Emanuel Bach hatte sich beurlauben lassen. Ihn vertrat der zweite Hofcembalist Christoph Nichelmann – ein schmaler, stets nervös wirkender Mann, der erst in dem Moment, in dem er zu spielen begann, zur Ruhe kam.
Quantz legte die Noten auf das Pult und machte eine Verbeugung. »Majestät, es ist alles bereit. Wenn Sie wünschen, können wir die neue Komposition probieren, die ich mitgebracht habe.«
»Einen Moment noch.«
Der König winkte einem Lakai zu, der die Tür öffnete. Drei Männer betraten den Saaclass="underline" La Mettrie, d’Argens und Algarotti. Hinter ihnen trugen Lakaien einen bequemen Sessel herein, und eine weitere Person erschien: Friedrichs Schwester Amalia mit Dreispitz und ausladendem Reifrock, dessen Seidenstoff raschelte. Sie durfte als Einzige Platz nehmen. Alle bis auf Friedrich verneigten sich.
Quantz staunte. Gäste beim abendlichen Konzert des Königs! So etwas hatte es in Sanssouci noch nie gegeben.
Der Monarch nahm die Begrüßungen entgegen und lächelte Quantz zu. Dann blickte er in die Runde. »Ich ehre mit diesem Konzertabend einen meiner wertesten Lehrer und Berater«, sagte er. »Einen Mann, dem in der letzten Zeit viel Unrecht widerfuhr. Dieses Unrecht möchte ich nun wiedergutmachen. Herr Quantz hat mir über die Musik hinaus gezeigt, dass auch ein König mitunter Schein und Sein verwechseln kann, sodass sich das erwähnte Unrecht auch aus Fehlern desjenigen speiste, der eigentlich der erste Diener des Staates sein sollte. Denn dieser ist nicht nur ein König.« Hierbei traf Friedrichs Blick auf La Mettrie, der wissend in sich hineinlächelte. »Er ist auch ein Mensch.« Friedrich unterbrach sich kurz, als wolle er dieser Aussage besonderes Gewicht verleihen. »Wie glücklich kann ein Herrscher sein«, fuhr er fort, »der Berater um sich hat, die ihm den Weg zu solchen Erkenntnissen weisen. Ich habe Sie nun zu dieser Musik geladen, um Ihnen zu bezeugen, dass Herr Quantz der am höchsten geachtete Musiker an meinem Hofe ist – und immer bleiben wird. Solange ich lebe. Solange er lebt. Wenn ich seine Musik spiele, dann – das gebe ich gern zu – mache ich mich ihm, meinem Wegweiser in das Reich der Töne, gern untertan.«
Quantz spürte brennende Wärme auf seinen Wangen, und mit einem Mal war ihm federleicht ums Herz. Er verbeugte sich, und die Gesellschaft brach in verhaltenen Beifall aus.
»Ich hoffe«, ergriff Friedrich wieder das Wort, »dass auch meine musikalische Schwester an diesem Konzert ihre Freude haben wird – obwohl sie sich, wie ich gehört habe, in ihren eigenen Bestrebungen auf dem Gebiet der Tonkunst auf das Terrain eines viel strengeren Kompositionsstils begeben hat.« Amalia schwieg, nickte ihrem Bruder jedoch ermunternd zu.
Der König drehte sich zu den Musikern. »Sind Sie bereit, meine Herren?« Quantz nahm seinen gewohnten Platz ein. Graun hob die Violine an, um den Einsatz zu geben.
In dem folgenden kurzen Moment der erwartungsvollen Stille nahm Quantz alles um sich herum in höchster Intensität auf. Es war, als hätte ihm das Bewusstsein der einsetzenden Musik die Fähigkeit verliehen, die Zeit zu verlangsamen. Er betrachtete die Gesichter der Gäste, die auf Seine Majestät gerichtet waren. Jetzt, wo der König ihnen nicht mehr direkt zugewandt war, zeigte ihr Mienenspiel ihre wahren Gedanken: Skepsis war auf dem Gesicht der Prinzessin zu lesen – zu erkennen an den hochgezogenen Augenbrauen. La Mettrie rümpfte spöttisch die Nase. Wahrscheinlich ging ihm gerade eine aufblitzende Erkenntnis durch den Kopf. Nur Algarotti und d’Argens schienen von ungetrübtem Wohlwollen erfüllt zu sein.