Quantz nahm den Kerzenleuchter und ging auf den Gang. Andreas hatte wohl festgestellt, dass die Haustür abgeschlossen war, er trommelte laut dagegen und gab seltsame kleine Schreie von sich, die ängstlich, fast verzweifelt klangen.
»Was zum Teufel …«
Die Tür zur Soldatenstube flog auf. Trakow oder Sperber, in den gelben Hosen der Leibgarde und mit nacktem, behaartem Oberkörper, trat heraus, ging auf Andreas zu und verpasste ihm eine Ohrfeige. Der Junge gab sofort Ruhe.
»Kann man hier mal schlafen?«, schrie der Soldat. Erst jetzt bemerkte er Quantz. Sein langer, dunkler Zopf, der vom Hinterkopf fast bis zum Gürtel reichte, pendelte hin und her. »Herr, was soll der Lärm?«
Der Grenadier, mit einem Gesicht wie ein riesiger Kürbis, in dem der schmale dünne Oberlippenbart fast lächerlich wirkte, starrte Quantz an, der nach Worten suchte. In dieser Atempause kam Leben in Andreas. Er stürzte in das Soldatenzimmer, vorbei an dem Kameraden, der jetzt auch durch die Tür sah, und riss ein Fenster auf.
»Haltet ihn auf«, rief Quantz und wollte hinterher, doch die Soldaten hielten ihn zurück. Plötzlich war das Kürbisgesicht ganz nah. Trakow oder Sperber dünstete einen Atem aus, der nach Kloake roch und in Quantz Übelkeit hervorrief.
»Lasst den Idioten gehen. Dann haben wir endlich Ruhe.«
Quantz blieb nichts anderes übrig, als zuzusehen, wie Andreas auch noch den Fensterladen aufstieß und hinauskletterte.
»Lass Er mich sofort los«, rief er. »Das ist immer noch mein Haus.«
Die Grenadiere hinderten ihn nicht daran, den Schlüssel vom Haken zu nehmen und die Haustür aufzuschließen.
Auf der Straße am Kanal war alles still. Das Wasser in dem Graben war nur zu erahnen. Die Öllampen standen in großen Abständen einsam da. Quantz versuchte, etwas zu erkennen. In Richtung Kellertor schien sich ein Schatten zu bewegen.
Zuerst kam es Quantz unangemessen vor, loszurennen wie ein Rekrut beim Manöver. Wenn er auf eine Patrouille stieß, würde man ihn als verdächtig einschätzen. Aber das war bei jedem der Fall, der sich nachts auf den Straßen Potsdams aufhielt. So wechselte Quantz vom schnellen Gehen zum Trab.
Ein Stück von der Berlinischen Brücke entfernt trat Andreas’ helle Gestalt für einen Moment in den Kegel einer Laterne. Von dort hinten war es nicht weit bis zum Berliner Tor. Die Wahrscheinlichkeit, auf Soldaten zu treffen, wuchs mit jedem Schritt. Andreas schien das zu wissen. Er kauerte sich an der Brücke in den Schatten eines der Bäume, die die Straße am Kanal säumten, sah sich kurz um und rannte los in Richtung der älteren Stadt.
Quantz erreichte die Brücke. Weiter hinten die Berliner Straße hinab war eine Ecke des hell erleuchteten Schlosses sichtbar. Zu Füßen der Mauer standen Soldaten. Andreas war verschwunden.
Quantz atmete schwer, und schon begann das Spiel von Neuem. Aus der Häuserfront vor dem Schloss löste sich eine Silhouette, und dann – Quantz musste mehrmals blinzeln, weil er dachte, sich zu irren – erschien eine zweite, rundlichere Figur. Sie nahm nun die Verfolgung des Lakaien auf, der um die nächste Ecke bog. Als Quantz mit heftigem Seitenstechen dort ankam, waren beide verschwunden – Andreas und der Unbekannte, der ihn verfolgte.
Irgendwo hinter den Häusern ertönte ein schwacher, ferner Ruf. Quantz lauschte. Doch just in diesem Moment setzte das Glockenspiel der Garnisonkirche ein. Sie befand sich weit weg, jenseits des Schlosses, auf der anderen Seite vom Alten und Neuen Markt, doch ihre Choralmelodien wehten regelmäßig über die ganze Stadt hinweg. Er hatte sich angewöhnt wegzuhören, wenn das silberne Geklingel begann, doch jetzt dröhnte ihm die Melodie des Kirchenliedes »Lobet den Herren« geradezu in den Ohren.
»Wer da? Parole!«
Drei Soldaten hatten sich ihm geräuschlos genähert. Sie trugen hohe Blechhüte, die an steife, aufgerichtete Zipfelmützen erinnerten und oben in einem Wollpuschel endeten. Die Farben dieses seltsamen Zierrats zeigten die Zugehörigkeit zu bestimmten Einheiten – ebenso wie die weißen oder gelben Hosen. Quantz hatte den Sinn dieser Erkennungszeichen der Regimenter und Bataillone und der Dienstgrade und Waffengattungen nie verstanden. So lächerlich er insbesondere die Blechmützen empfand, so sehr schüchterte ihn der Trupp ein – zumal zwei der Soldaten ihm die Gewehre mit den Bajonetten gesenkt entgegenhielten. Die Spitzen schwebten drei Fingerbreit vor seinem Bauch.
»Parole!«, brüllte einer erneut.
»Sehen Sie nicht, dass ich Zivilist bin?«
»Zapfenstreich war vor Stunden. Es hat schon elf geschlagen. Was will Er noch auf der Straße?«
»Ich sah einen entsprungenen Lakai …«, murmelte Quantz, doch die Worte kamen ihm sinnlos vor. Sie würden Andreas ohnehin aufgreifen. Der Verfolger musste ein Soldat gewesen sein.
»Lauter«, befahl der Grenadier.
Vom Schloss her näherten sich weitere Männer. Einer trug anstatt des Blechhutes einen eleganteren Dreispitz. Ein Offizier. Mit ihm würde Quantz vielleicht vernünftig reden können.
»Lass gut sein, Kerl«, sagte der Offizier dann auch. »Das ist Herr Musikus Quantz, ich kenne ihn.«
Die Bajonette senkten sich.
»Sie haben nicht hier zu sein, mein Herr. Ich denke, das wissen Sie. Was wollten Sie hier draußen?«
»Ich hatte Konzert beim König und brauchte noch etwas frische Luft.«
Der Offizier sah ihn prüfend an und schien kurz über diese Entschuldigung nachzudenken. »Nun haben Sie Ihre frische Luft gehabt.« Er gab den Männern ein Zeichen. »In die Unterkunft eskortieren.«
Quantz ging zurück zu seinem Haus, den Kanal entlang. Dicht hinter ihm folgten die drei Grenadiere.
Es war doch nicht die Wache, die Andreas verfolgt hatte. Soldaten waren immer in Gruppen unterwegs. Aber wer hatte den Lakaien dann verfolgt? Ob ihm etwas zugestoßen war?
Mehrmals war Quantz versucht, die Grenadiere zu fragen, ob sie Andreas aufgegriffen hatten. Er überlegte sogar, zurückzugehen und sich noch einmal an den Offizier zu wenden, dem ein solcher Vorfall ja sicher gemeldet wurde.
»Schneller, Herr Musikus«, befahl der Grenadier hinter ihm. »Schlaf Er nicht ein.«
4
Sophie nippte an dem Weinglas. Ein feiner wässrig-roter Tropfen blieb an ihrer Lippe hängen und rann langsam zum Kinn hinunter. Das vertraute Weintrinken – wechselseitig, aus einem einzigen Glas, das Quantz aus Venedig mitgebracht hatte – war ein Ritual, das sie immer in seiner Schlafkammer zelebrierten.
Doch dann saßen sie nicht mehr an dem schmalen Holztisch, auf dem gerade einmal der Kerzenleuchter Platz hatte. Sophie tanzte jetzt in hellem Sonnenschein über eine Wiese. Ein Bach schlängelte sich von einem Wald her, und Quantz – deutlich verjüngt und beweglich wie Adonis – begleitete sie auf seiner Flöte. Die Melodien verliehen dem leuchtenden Himmel ein noch tieferes Blau, sie winkten den Wolken und einem Vogelschwarm weit oben über den Hügeln zu, und selbst die im leichten Wind schwankenden Äste der Bäume schienen auf ihre Art in die Weise einzustimmen und nahmen den wiegenden Rhythmus an. Sogar aus dem Murmeln des Wassers drang ein Echo der Melodie.
Ich bin Orpheus, dachte Quantz voller Freude, der Orpheus der Flöte. Die Natur gehorcht meinen Tönen. Sie hebt an zu tanzen und zu singen, wenn ich aufspiele. Wie glücklich bin ich doch.
Da zerbrach das Bild, und eine schwarze Wolke fraß die bunte Landschaft in Sekundenschnelle. Eine plötzliche Kälte erfasste ihn, und gleichzeitig ließ das Donnern eines Gewitters alles erzittern. Quantz, von Frösteln gepackt, schlug die Augen auf. Um ihn herrschte Dunkelheit.
Er lag neben Sophie. Stoff raschelte. Sie war wach. Ein Schwall weiblichen Duftes drang aus der warmen Höhle des Bettzeugs, als sie sich aufrichtete.
»Haben Sie gehört?«, flüsterte sie ängstlich.
»Was?«, fragte Quantz. Da wurde unten gegen die Tür gehämmert. Das Haus schien unter den Schlägen zu beben. »Aufmachen«, schrie eine Stimme, hart wie Granit und unerbittlich. Irgendwo rumpelte es. Sophies Gesicht erschien im zitternden Licht einer Flamme vor ihm.