»Was ist da los?«, rief Quantz, der jetzt vollständig wach war. Sophie reichte ihm den Leuchter. Kaum war er auf der Treppe, da erschütterten wieder die Schläge das Haus.
»Hören Sie nicht? Sofort öffnen«, kam es wieder von draußen. Trakow und Sperber versperrten ihm den Flur. Quantz drängte sich vorbei und schloss auf. Draußen stand eine Wachpatrouille. Ein Pferd scharrte mit den Hufen.
»Kammermusikus Quantz. Sind Sie das?«, rief ein Grenadier.
»Ja, aber was –?«
»Mitkommen. In die Kutsche.«
Erst jetzt erkannte Quantz das wartende Coupé. »Wohin? Was ist denn überhaupt geschehen?«
»Zum König.«
Der Himmel zeigte erste Streifen von blauem Licht. Der Appell hatte noch nicht stattgefunden. Der König allerdings war um diese Zeit bereits auf und ging seinen Regierungsgeschäften nach.
»Sofort!«, rief der Soldat wieder. »Muss ich Ihm Beine machen?« Die Bajonette seiner Kameraden senkten sich, als Quantz einen Schritt zurück in den Gang machte.
»Ich werde mich wohl ankleiden dürfen.«
»Eine Minute«, bellte der Grenadier.
Trakow und Sperber hatten sich wieder in ihre Stube zurückgezogen. Als Quantz die Treppe hinaufging, überfiel ihn der Schrecken wie ein Schmerz, der erst einige Atemzüge später einsetzt, nachdem man sich geschnitten hat. Auf halber Strecke musste er stehen bleiben und tief durchatmen, bevor er weitergehen konnte.
Sophie wartete in der Schlafkammer. Ihr Gesicht war blass. »Was wollen die?«
»Ich weiß nicht. Es ist … sehr ungewöhnlich.«
Seine Hände wollten ihm nicht gehorchen, als er sich fahrig ankleidete. Er stürzte beinahe, als er in die Kniehosen stieg, mit dem Fuß hängen blieb und das Gleichgewicht verlor. Sophie half ihm mit Jabot und Perücke. Als er endlich den hellblauen Rock anlegte, trampelten Schritte die Treppe herauf, und die Wache drängte sich ins Schlafzimmer.
Der Raum füllte sich mit Bieratem und Schweißgeruch. Der Anführer warf einen hämischen Blick auf Sophie, die wenigstens ihr Unterzeug trug, aber mit offenen Haaren dastand.
»Es war eine Minute befohlen.«
In Quantz ballte sich Zorn zusammen. »Raus hier«, schrie er. »Was fällt Ihnen ein? Ich komme ja schon!«
Die Kutsche nahm dieselbe Strecke, auf der die Musiker auch sonst zum Konzert ins Schloss gelangt waren. Aber dieses Gefährt fuhr viel schneller als das von Brede. Es donnerte über das harte Pflaster, dass Quantz die Stöße schmerzhaft in seiner Hüfte spürte und sich an der Sitzkante festhalten musste. Als sie auf der Brandenburger Straße auf das Tor zufuhren, mischten sich Getrommel und Geschrei in das Getrappel der Pferde und das Gerumpel.
Quantz sah aus dem Seitenfenster. Überall öffneten sich die Türen. Der Tag war angebrochen. Der Ameisenstrom der Uniformierten quoll aus den Häusern. Sie rannten und hängten sich im Laufen Säbel oder Patronentaschen um. Der Appell stand bevor.
Die Kutsche rumpelte durch das Tor und ließ den Lärm hinter sich, dann hinauf zum Schloss, wo über den Wiesen zwischen den Bäumen der Frühnebel dampfte.
***
Andreas erwachte in einer schaukelnden Enge. Es kam ihm vor, als würde er schweben
Er versuchte, sich zu bewegen, doch seine Hände waren gefesselt. Der Ansatz eines Schreis entfuhr seinen Lungen, aber etwas Dickes, Widerliches füllte seinen Mund, und er brachte nur ein Wimmern zustande.
Seine Nase füllte sich mit Schleim. Er stieß heftig Luft aus – voller Angst zu ersticken.
Andreas hatte die Augen weit aufgerissen, aber er konnte nichts erkennen. Sein Kinn schabte an grobem Stoff. Man hatte ihm einen Sack über den Kopf gezogen. Auch seine Beine waren verschnürt.
Sein Herz pumpte und pumpte. Wärme entstand zwischen seinen Beinen, dann Kälte. Er hatte wieder ein paar Tropfen in die Hose entlassen. Das geschah ihm oft, wenn er Angst hatte oder einen Schreck bekam.
Beruhige dich, sagte er sich immer wieder. Bleib ruhig.
Was war eigentlich geschehen?
Er war durch die Stadt gelaufen, er war vor Herrn Quantz geflohen. Dem hatte die schöne Musik, die er sich für ihn ausgedacht hatte, wohl nicht gefallen. Andreas hatte Angst bekommen, dass ihn Herr Quantz zur Wache brachte. Er wollte sich lieber selbst zum Schloss durchschlagen. Vielleicht hatte man dort gar nicht bemerkt, dass er von dem Botendienst nicht zurückgekehrt war.
Aber er hatte nicht aufgepasst. Plötzlich war der Teufel da gewesen und hatte ihn geschnappt.
War er jetzt in der Hölle? Oder auf dem Weg dorthin?
Andreas hatte gehört, dass man auf der Fahrt in die Unterwelt einen Fluss überquerte. Und wenn er sich konzentrierte, dann gewann er den Eindruck, sich auf dem Wasser zu befinden. Auf einem Boot.
Tatsächlich. Der enge Raum, in dem er sich befand, schaukelte leicht. Jetzt stießen sie irgendwo an. Männerstimmen waren zu hören. Andreas konnte sie nicht verstehen. Er versuchte, die Ohren zu spitzen und den Männern zuzuhören, aber es gelang ihm nicht. Schritte näherten sich, und starke Arme griffen nach ihm.
Vielleicht, dachte Andreas, ist es ja jetzt vorbei.
***
Quantz stand im Vestibül des Schlosses. Immer wieder fiel sein Blick auf die Statue aus weißem Marmor, die zwischen zwei Säulen an der Wand saß. Es war der Kriegsgott Mars, der gerade ausruhte von seinen vielen Kämpfen und Schlachten.
Schon in der Kutsche hatte sich Quantz den Kopf darüber zerbrochen, warum der König nach ihm schicken ließ. Draußen im Ehrenhof hatte er eine weitere Kutsche gesehen. Doch das war nichts Ungewöhnliches, denn der König empfing oft um diese Zeit seine Beamten und Berater.
Ob Quantz zu Unrecht Angst hatte? Vielleicht brauchte Seine Majestät seine Hilfe? Und es war eine Ehre, so früh hier erscheinen zu dürfen? Er entspannte sich ein wenig, und dabei wurde ihm die Müdigkeit bewusst, die ihm in den Knochen steckte. Er hatte höchstens zwei Stunden geschlafen.
Plötzlich regte sich etwas auf der anderen Seite der Tür zum Marmorsaal.
»Ist er da?«, rief Friedrichs Stimme, in der wie so oft Ungeduld mitschwang. »Ja, dann bringe man ihn doch endlich herein.«
Die Tür öffnete sich, und da stand der König. Sein Blick ruhte einen Moment auf Quantz, und er besaß nicht den neugierigen Ausdruck wie beim Musizieren oder wenn Seine Majestät eine neue Komposition durchsah. Er blickte streng. So sah der Monarch wahrscheinlich seinen Generälen und Offizieren in die Augen.
»Da ist er ja«, sagte der König. »Mitkommen.«
Keine Begrüßung. Keine Höflichkeitsformel. Das Konzertzimmer, das sie auf dem Weg zum Gemach des Königs durchqueren mussten, lag wie eine düstere Kammer da. Die Vorhänge waren noch geschlossen. Die goldenen Verzierungen, die Figuren auf den Gemälden und auch das Spinnennetz waren nur schemenhaft zu erahnen. Sie schienen in der Dämmerung zu schlafen.
Im Arbeits- und Schlafraum jedoch standen die Fenster offen. Das junge Licht des heraufziehenden Frühlingstages drang herein, dazu der frische Duft von Blüten und fernes Vogelgezwitscher. Trotzdem brannten die Kerzenleuchter. Die Luft ließ die Flammen erzittern, die Schatten an den Wänden und an den Säulen, die die Schlafnische des Königs begrenzten.
Fredersdorf – der Privatsekretär, den Seine Majestät fast ständig um sich hatte – und ein paar Lakaien warteten ebenfalls.
Neben der großen mit Papieren bedeckten Schreibtischplatte stand ein kleiner hölzerner Schrank mit Schubladen, die zum Teil offen standen und aus denen Dokumente herausragten. Quantz’ Blick fiel auf die Uhr, die das edle Möbelstück krönte. Das Zifferblatt war von goldenem Rankwerk umgeben. Es zeigte kurz vor halb sechs.
Ein Moment der Stille entstand, in dem das Lärmen der Vögel noch deutlicher zu hören war, begleitet vom Ticken der Uhr. Sollte er etwas sagen? »Majestät haben mich rufen lassen –«, begann er ungeschickt.