Quantz kam kaum mit. Wie rasch dieser Weyhe die Themen wechselte … »Wie meinen Sie das? Ich war dem König freundschaftlich verbunden, ja.«
»Sie waren … Wie ist es heute?«
»Heute …«
»Sie haben damals Ihren König, den Vater Seiner Majestät, verraten, das haben Sie selbst gerade bestätigt. Nun ist Ihr König ein anderer, aber verraten Sie ihn nicht vielleicht erneut? Indem Sie wieder einem anderen gegen den Willen Seiner Majestät beistehen? Einem Lakaien? Ihn vielleicht heimlich unterrichten? Obgleich Sie das nicht dürfen, da Ihre Dienste wie übrigens auch Ihre Kompositionen voll und ganz Seiner Majestät gehören?«
Quantz stockte. Der Mann sprach schnell, die Gedankensprünge waren verwirrend. Trotz seines vernarbten Gesichts musste der Rat jung sein, noch keine fünfundzwanzig. Ein Schnösel also. Es wurde Zeit, dass Quantz seine Autorität hervorkehrte.
»In welche Widersprüche gedenken Sie mich zu verwickeln, Herr Weyhe? Was sollen die alten Geschichten? Ich lasse und ich ließ mir nichts zuschulden kommen. Niemandem gegenüber. Erst recht meinem König gegenüber nicht. Ich habe in meiner Profession viel erreicht, und mir wurde eine große Laufbahn zuteil. Ich war in vielen Städten Europas und habe Beifall von hohen Persönlichkeiten geerntet. Ich habe es nicht nötig, mir von Ihnen Verrat unterstellen zu lassen. Zumal mir unbegreiflich ist, was Andreas und sein Verschwinden mit einem Verrat am König zu tun haben sollen.«
Weyhe sah Quantz nachdenklich an, wobei er die Hände auf dem Rücken verschränkt hielt. Er wirkte wie ein Kandidat der Universität bei einem fachlichen Disput. Sein wacher Blick, der lauernd auf Quantz lag, verriet, dass er weit davon entfernt war, sich geschlagen zu geben. »Sie müssen noch viel mehr begreifen, wenn Sie wirklich so ahnungslos sind, wie Sie tun. Gehen wir ein Stück? Wir sind nur wenige Schritte von einem schönen Park entfernt.«
»Es ist der Park Seiner Majestät!«, fuhr Quantz auf, aber der Rat ging an ihm vorbei und trat nach draußen auf die Terrasse.
Weyhe wandte sich um. »Es wurde mir erlaubt, den Park zu nutzen. Ich habe alle Freiheiten. Ich muss einen Fall aufklären.«
»Welchen Fall?«
Weyhe antwortete nicht, sondern ging voraus. Quantz folgte, und gemeinsam spazierten sie bis zu der Stelle, wo die breite Treppe in großen Kaskaden hinunter in den Park führte.
»Den Fall, einen entsprungenen Lakaien zu finden?«, fragte Quantz.
»So etwas geschieht allenthalben. Sie werden ihn einfangen und bestrafen«, erklärte Weyhe. »Doch was ich eben sagen wollte, ist, dass die Dinge mitunter verschiedene Bedeutungen haben. So auch Andreas.«
»Verschiedene Bedeutungen? Aber Andreas ist ein Lakai. Er ist etwas seltsam, aber freundlich. Er kommt manchmal zu mir.«
»Er hat etwas gestohlen.« Der Rat musterte Quantz, als wolle er seine Reaktion auf das überprüfen, was er als Nächstes sagte. »Er könnte ja noch mehr gestohlen haben. Dinge aus dem Schloss zum Beispiel. Die Lakaien haben Zutritt zu allen Räumen. Auch zu so manchen Dokumenten.«
Quantz hielt dem Blick stand. »Ich weiß nicht, ob Andreas sonst etwas genommen hat. Auch von den fehlenden Noten habe ich erst vorhin erfahren.«
»Haben Sie ihn eigentlich auch in der Musik unterrichtet?«, fragte Weyhe. »Sie wissen, dass Seine Majestät Ihnen das erlauben muss.«
»Aber nein. Andreas hört gern zu, wenn ich Flöte spiele. Oder er sieht mir beim Schreiben zu. Ich habe ihn stets ermahnt, seine Pflichten nicht zu vernachlässigen und ins Schloss zu gehen. Doch er lässt sich nichts befehlen.«
»Was alles andere als angemessen ist für einen Lakaien, finden Sie nicht?«
»Nun, das ist nicht meine Sache. Er steht ja nicht in meinen Diensten. Und im Übrigen glaube ich gar nicht, dass Andreas entsprungen ist. Oder desertiert, wie Sie das ausdrücken.«
»Sondern?«
Quantz rang sich durch, die Wahrheit zu sagen. »Er war gestern spätabends bei mir. Ich nehme an, er hatte in der Stadt zu tun … oder er hat sich vom Schloss entfernt und ist in die Stadt gegangen und dort geblieben, als die Tore geschlossen wurden. Ich wollte ihn auffordern, zu gehen, und da ist er weggelaufen.«
Weyhe nickte. »Solches ist mehrmals geschehen. Freiberger hatte Botengänge in die Stadt zu tun, und er wurde immer wieder von der Wache aufgegriffen, weil er nicht sofort ins Schloss zurückkehrte. Doch fahren Sie fort. Warum glauben Sie, dass er nicht geflohen ist?«
Quantz schilderte in knappen Worten, wie er Andreas verfolgt hatte und dass ihm noch ein anderer Mann nachgerannt war.
»Ich wollte hin, doch die Patrouille bemerkte mich und befahl mir, nach Hause zu gehen. Man eskortierte mich sogar.«
»So. Man eskortierte Sie sogar.«
Quantz spürte einen Stich von Ärger. »Äffen Sie mich nicht nach, Herr Weyhe. Seine Majestät hat mich gebeten, zu den Fragen, die sich durch die Absentierung von Andreas ergeben, Stellung zu nehmen. Ich bin mir der Gnade bewusst, dass der König meine Gegenwart wünschte und –«
»Sie sind sich der Gnade bewusst, dass der König Sie verhören lässt?«
»Verhören? Warum verhören?«
»Wissen Sie, Herr Musikus –«
»Nennen Sie mich bitte beim Namen.«
»Ich halte das schon für ein Verhör. Sie bringen sich selbst in diese Situation. Sie sprechen von Besuchen des Freiberger bei Ihnen. Von eigenem unerlaubtem Aufenthalt nachts auf der Straße.«
»Ich habe Andreas nicht zur Flucht verholfen, wenn Sie das meinen. Ich habe nichts damit zu tun.«
»Warum haben Sie ihn dann verfolgt, wie Sie sagen? Welchen Grund hatten Sie dazu? Oder haben Sie ihn nach jedem Besuch verfolgt?«
»Fragen Sie die Wache, die mich in der Nähe der Berlinischen Brücke getroffen hat. Man wird meine Aussage bestätigen.«
»Bestätigen, dass Sie dort waren, ja. Die Wachen werden just in dieser Minute befragt. Aber dass Sie Freiberger gefolgt sind …« Weyhe schüttelte den Kopf. »Wir werden natürlich alles prüfen, Herr Musikus. Aber bis dahin haben Sie noch einmal die Gnade.«
»Die Gnade?«
Der Rat wies mit dem Kinn auf den Flügel mit den Privatgemächern des Königs. Die Kerzen hinter den Fenstern brannten längst nicht mehr.
»Er erwartet Sie.«
Quantz’ Nacken versteifte sich. »Was ist so wichtig an Andreas, dass sich alle bis hinauf zum König um seinen Verbleib sorgen?«
Der Rat schwieg, und Quantz blieb nichts anderes übrig, als zum Schloss zurückzugehen. Sein Blick fiel auf die beiden Worte Sans und Souci, die der König hatte anbringen lassen. Das Wort »Sans« – ohne – wies nach links zum Gästeflügel, »Souci« – Sorge – auf die Seite, in der der König wohnte.
***
Fredersdorf nahm stehend einzelne Blätter entgegen, die Friedrich unterzeichnete. Keiner der beiden Männer sah auf, als Quantz den Raum betrat. Der König griff zu einer Porzellandose, die auf einem Silbertablett neben einer Tasse Kaffee stand. In der Dose steckte ein Löffel. Er gab eine weiße Paste in den Kaffee, rührte und nahm einen Schluck.
Quantz kannte die seltsame Angewohnheit Seiner Majestät, Senf in den Kaffee zu rühren. Angeblich geschah es auf ärztliche Anordnung.
»Ich dulde keine Insubordination«, sagte Friedrich, der weiter seine Blätter abzeichnete, wobei er hier etwas durchstrich, dort einen Haken machte. Seine Finger waren von Tinte beschmiert. »Und Insubordination nenne ich das, was geschehen ist, Herr Quantz. Diese Notenblätter gehen niemanden etwas an. Nur Sie und mich.«