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Schon beim Abendessen war Quantz diese Melodie in den Sinn gekommen – ein wenig pompös vielleicht, aber trotzdem lebhaft und vorandrängend. Elegant und doch voller Elan und Geist.

Leider war sie ihm wieder entfallen, als er in seinem Arbeitszimmer stand. Die Noten, die er, ein Stück kalten Braten im Mund, deutlich in seinem Inneren gehört und vor seinem geistigen Auge auf dem imaginären Notenpapier gesehen hatte, waren wie weggeblasen. Sie hatten sich verflüchtigt wie eine beleidigte Diva. Als habe es sie nie gegeben.

Quantz legte die Feder hin und wischte sich die von Tinte befleckten Finger ab. Seine innere Stimme, die genauso klang wie das schneidende böhmische Organ seines alten Lehrers Zelenka, erhob Einspruch.

Das soll ein Konzert werden?

Diese banalen Noten?

Du schreibst für einen König und nicht für eine Bauernkapelle.

Du willst ein Kammerkomponist sein?

Und du kannst dir noch nicht mal eine einfache Melodie merken, die du dir selbst ausgedacht hast. Du bist nicht würdig, das hohe Amt des königlichen Compositeurs zu bekleiden, wenn du dich bei jedem neuen Werk anstellst wie ein blutjunger Anfänger …

Er wandte sich von dem Pult ab. Die Dielen knarrten, als er die wenigen Schritte zum Schrank zurücklegte, wo er die Kopien seiner bisherigen Werke aufbewahrte.

Wie viele Konzerte hatte er bisher geschrieben? Es mussten mehr als zweihundert sein. Musik für einen König, der die Musik liebte, selbst die Flöte spielte und sogar komponierte. Wenn auch ziemlich stümperhaft.

Und der deswegen auf Quantz’ Hilfe angewiesen war.

Quantz hatte Friedrich zu einem ordentlichen Flötisten gemacht, und er war verantwortlich für die Musik, die in den königlichen Kammerkonzerten erklang. Und wenn Seiner Majestät eine Idee für ein Musikstück kam, war Quantz es, der sie ausarbeitete und dem König so zur Freude an künstlerischem Schaffen verhalf.

Welch ein Glück, dass Seine Majestät anders als andere Monarchen wenig Sinn für kompliziertes Hofzeremoniell besaß. Dass er die Jagd – eigentlich das typische Vergnügen des männlichen Adels – hasste. Dass er stattdessen den schönen Künsten zugetan war und Quantz brauchte. Auch wenn Quantz nicht mehr der Jüngste war und er die meisten anderen Hofmusiker – den jungen Bach, Graun, Benda – ein bis zwei Jahrzehnte an Lebenszeit übertraf.

Er wollte gerade den Schrank öffnen, um sich wenigstens am Anblick seiner Werke zu ergötzen, da hörte er ein Geräusch. Ein leises Trommeln klang vom Fenster her.

Quantz übersetzte es sofort in einen Rhythmus. Vier Sechzehntel und ein Viertel. Gar keine schlechte Idee. Daraus konnte man etwas machen. Es klang kokett, grazil. Ein schönes geschnörkeltes Motiv.

Er wandte sich um.

Hinter der Fensterscheibe schälte sich etwas aus der Dunkelheit. Eine weiße Hand mit langen Fingern. Ein Gesicht.

Quantz’ Herz setzte vor Schreck einen Moment aus. Dann erkannte er Andreas, den stummen Lakai. Er musste wieder einmal an einem der Bäume emporgeklettert sein. An einer der Linden, die entlang des Kanals wuchsen und deren Krone seitlich in die Fassade des Gebäudes ragte …

Andreas’ längliche Züge mit den traurigen dunklen Augen verzogen sich, als er pantomimisch eine Flöte an den Mund führte und mit der linken Hand eine Bewegung machte, als würde er darauf spielen. Mit der anderen hielt er sich am Baum fest.

»Kerl, willst du dir den Hals brechen?«, rief Quantz, als er das Fenster geöffnet hatte. Der Lakai kletterte mühsam herein. Seine helle Livree war verschmutzt, die Perücke, die schief auf seinem Kopf saß, war auch nicht mehr ganz weiß.

In letzter Zeit hatte er Quantz öfter besucht, allerdings tagsüber, wenn Andreas Botengänge erledigte. Es war ein Rätsel, wie er zu dieser Stunde überhaupt in die Stadt gekommen war. Bei Einbruch der Dunkelheit wurden die Stadttore geschlossen. Sanssouci, wo Andreas seinen Dienst versah, lag außerhalb von Potsdam.

Aber dieser Mensch war eben merkwürdig. Niemand hatte ihn je sprechen hören. Doch im Dienst galt er als mustergültig. Er tat alles, was man von ihm verlangte, mit großer Genauigkeit.

»Was willst du hier?«

Andreas blickte ihm nicht in die Augen und bewegte sich seltsam schlaksig durch den Raum.

Unruhe erfasste Quantz. Er konnte den Jungen nicht gebrauchen. Er musste arbeiten. Außerdem hatte Andreas nicht hier, sondern bei seinem Dienst oder in der Dienerkammer zu sein.

»Du bist von einem Gang in die Stadt nicht ins Schloss zurückgekehrt«, stellte Quantz fest. »Du willst doch nicht etwa hier übernachten?«

Andreas verzog den Mund, schwieg aber, wie es seine Art war. Man konnte ihm ansehen, dass er sehr gut verstand, was man ihm sagte. Er lief unschlüssig in der Stube herum und blieb schließlich vor dem Pult stehen.

Im ersten Impuls wollte Quantz ihn zurückpfeifen, doch dann besann er sich darauf, dass in Andreas kleine Wunder steckten. Man musste ihm nur Zeit geben, sich in eine Sache hineinzufinden, und ihm gelangen die seltsamsten Dinge. Bei seinem letzten Besuch hatte er in unglaublicher Geschwindigkeit Sophies Restgeld gezählt, nachdem sie vom Markt zurückgekommen war. Kaum hatte er die Münzen in die Hand genommen, da hatten seine Finger die richtige Summe auf den Tisch gemalt.

Ein andermal hatte er es sogar geschafft, Quantz beim Komponieren zu helfen. Es war nicht herauszufinden, wie er darauf gekommen war, aber er hatte begriffen, dass man aus zufälligen Kombinationen von Noten die schönsten Melodien erfinden konnte.

Quantz war diese seltsame Fähigkeit klar geworden, als Andreas ein Stück Notenpapier in die Finger bekam, auf dem noch etwas Platz war und das Sophie eigentlich zum Feuermachen in die Kiste neben den Ofen gelegt hatte.

Wie besessen hatte Andreas vier, fünf Töne in immer anderer Reihenfolge aufgeschrieben, seine Arbeit auffordernd hingehalten, bis Quantz eingefallen war, es auf dem Cembalo im Arbeitszimmer zu spielen. Voller Freude über das Ergebnis war der Lakai im Zimmer herumgetanzt. Und Quantz erkannte, dass diese Art des Melodienerfindens sehr inspirierend war.

»Willst du wissen, wie das hier klingt?«, fragte er und deutete auf das Thema, über dem er seit Stunden grübelte und das einfach nicht in die herrliche Form kommen wollte, die ihm beim Abendessen vorgeschwebt hatte.

Andreas schien ihn nicht gehört zu haben. Er hatte schon zur Feder gegriffen. Akkurat tauchte er sie in das Tintenfass und ließ sie über dem Papier schweben, als müsse er einen Moment überlegen.

Quantz verließ die Hoffnung, dass ihm Andreas mit seinem seltsamen Hang zur Kombinatorik bei dem Konzert weiterhelfen könnte. Jetzt wirkte er, als wolle er den Kammerkomponisten des Königs nur nachahmen. Er hatte wahrscheinlich Quantz vom Fenster aus schon eine ganze Weile beobachtet und imitierte nun seine Gesten. Seine Arbeit an dem Stehpult. Quantz benutzte es, seit ihn zwischen Hüfte und Schulterblättern gelegentlich heftige Schmerzen heimsuchten.

Andreas wandte sich um und lächelte.

Er war vielleicht wirklich nur ein Idiot. Ein Idiot, in dem ein Talent schlummerte, wenn er bei Verstand wäre. Doch nun hing die Begabung unbenutzbar im leeren Raum – ohne Anleitung der Vernunft.

Mitleid erfasste Quantz. Am besten, er übergab den Jungen der Wache. Wenn man sich nachts auf die schnurgeraden Straßen von Potsdam wagte, traf man unweigerlich innerhalb von Minuten eine der Patrouillen, die nach einem festen System die Stadt durchschritten. Nur Andreas gelang es offenbar, ihnen zu entgehen. Hoffentlich wurde er nicht zu streng bestraft.

Quantz ging ans Instrument, um Andreas das missglückte Thema vorzuspielen. Seine Hand lag schon auf den Tasten, und in seinem Rücken meldete sich der altbekannte Schmerz, da begann die Feder zu kratzen.