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Quantz richtete sich auf. Andreas schrieb konzentriert etwas auf das Notenpapier. Neugierig kam Quantz näher.

Es war nicht sein Thema, das da stand, es war … Das war unmöglich. Das konnte nicht sein!

»Was schreibst du da?« Eine dumme Frage, denn er wusste es ja.

Andreas wirkte, als habe man ihn gewaltsam aus einem Traum aufgeweckt. Er sah Quantz böse an und bedeckte mit der Hand, was er geschrieben hatte.

»Woher kennst du das?«

Und wieso war Andreas in der Lage, fehlerfrei Noten aufzuschreiben, die zuletzt vor einem Jahr erklungen waren? Doch da hatte sich Andreas von dem Pult gelöst. Quantz kam näher, während der Junge, das Blatt festhaltend, zum Fenster zurückwich.

»Gib mir das«, sagte Quantz.

Andreas’ schwarze Augen fixierten ihn. Er griff nach dem Zettel, doch Andreas zog ihn weg, langte nach hinten und öffnete mit überraschender Geschicklichkeit das Fenster.

Er wird sich hinausstürzen, dachte Quantz.

Er packte Andreas am Arm und entriss ihm das Blatt.

Dann spielte ihm seine Neugierde einen Streich. Er wollte prüfen, ob er richtig erkannt hatte, was da stand, und hielt das Papier kurz ins Licht.

Schnell wie ein wildes Tier war Andreas über die Fensterbank geklettert. Laub raschelte. Ein Ast krachte.

Quantz blickte hinaus, nach unten, wo sich im matten Licht einer Öllampe auf der Straße das schwarze Wasser des Kanals spiegelte. Andreas’ Gestalt tauchte im Lichtkegel auf, dann war sie verschwunden. Seine Schritte verhallten.

Quantz lief zur Tür seiner Stube. Viel zu lange dauerte es, bis er die Treppen hinuntergepoltert war und im dunklen Flur den Schlüssel vom Haken genommen hatte.

Er schloss die Haustür hinter sich und rannte in die Richtung, in die Andreas verschwunden war.

***

Die Wache!

Der Mann drückte sich tiefer in den Hauseingang und lauschte auf die Schritte, die sich unbarmherzig näherten.

Die Holztür hinter ihm hing schief in den Angeln und drohte herauszufallen. Er drehte sich um und tastete sich an dem verfaulten Holz vorbei.

Das alte Gebäude war ein gutes Versteck. Es wurde gerade abgerissen, um Platz für die neuen Häuser zu schaffen, die der König in seiner Residenzstadt haben wollte. Eines davon war bereits fertig und stand auf der anderen Seite des Kanals – gleich an der Abzweigung zur schrägen Straße, die zum Bassin hinüberführte.

Dort wohnte der königliche Musiker Johann Joachim Quantz. In der oberen Etage brannte Licht. Ab und zu konnte man sehen, wie der Musikmeister in seinem Arbeitszimmer umherging.

Der Mann hatte beobachtet, wie der Lakai Andreas einen der Bäume, die den Kanal säumten, hinaufgeklettert war. Wie eines dieser menschähnlichen Tiere, die manchmal den Weg aus Afrika in die Kuriositätenkabinette der Adligen oder der Wissenschaftler fanden.

Quantz hatte Andreas behandelt, als sei er ein normaler Mensch. Dabei war er ein Idiot. Oder spielte wenigstens die Rolle des Idioten. So ganz klar war das nicht. Denn Andreas sprach kein Wort.

Die Wache kam heran. Der Mann verbarg sich ganz im Dunkel des Hauses hinter ihm und versuchte, möglichst geräuschlos die Tür wieder in die Öffnung zu schieben. Der staubige, herbe Geruch nach abgeschlagenem Mörtel und feuchtem Holz umgab ihn.

Die Tritte der Soldaten waren sehr nah und zogen vorbei. Die Marschtritte verklangen in der Ferne. Der Mann zählte zwanzig Herzschläge.

Jetzt wagte er sich wieder auf die Straße. Er bekam das Haus von Quantz genau in dem Moment in den Blick, als sich Andreas vom Baum schwang und davonrannte.

***

Quantz war ein langes Stück am Kanal entlanggelaufen. Als er an die Beckergasse gelangte, wo die hell erleuchtete Stadtwache lag, gab er es auf, den Jungen zu verfolgen.

Es hatte keinen Sinn. Und er würde sich lächerlich machen: Ein gestandener Bürger, im hohen Sold des Königs, der einem Lakaien nachlief …

Ohne von einer Patrouille angehalten zu werden, erreichte er sein Zuhause. Kaum hatte er den Hausflur betreten, öffnete sich die Tür zu dem Soldatenquartier.

Kerzenschein drang heraus. Im Türrahmen stand eine bullige Gestalt und kratzte sich am Kopf.

»Muss das sein, ein solcher Lärm mitten in der Nacht?«, dröhnte die Stimme des Grenadiers. Er stand barfuß in Hemd und Hose da. »Es sind nur noch wenige Stunden bis zum Morgenappell, Herr Quantz, und die würden wir gern schlafen.«

Der Geruch nach den Ausdünstungen ungewaschener Körper und der nicht minder unreinen Wäsche und Uniformen, der ihm aus der Stube entgegenkam, verursachte bei Quantz Übelkeit. Er überlegte, welcher der beiden vor ihm stand. Es war nicht leicht, sie auseinanderzuhalten. Der eine hieß Trakow, der andere Sperber. Wahrscheinlich hatte Quantz Trakow vor sich. Er besaß eine gezackte Narbe neben dem Mund, eine blasse Linie, die man aber in diesem Licht kaum erkennen konnte.

»Ist schon gut, es wird jetzt Stille herrschen.«

»Das hoffen wir«, brummte der Grenadier und zog sich zurück.

Quantz erklomm die Treppe und bemühte sich, leise aufzutreten. Oben erwartete ihn ein Lichtschein. Da stand Sophie mit einer Kerze. In ihrem Nachtgewand ähnelte die Magd einem Gespenst. Doch ihr ovales, ebenmäßiges Gesicht, das an eine Madonna erinnerte, jagte Quantz keinen Schrecken ein. Im Gegenteil.

»Ist jemand da gewesen?«, fragte sie mit einer Spur Ängstlichkeit in der Stimme.

»Ich erzähle es dir morgen«, sagte er. »Es ist nichts, was dich beunruhigen müsste.«

Sie gab ihm schweigend das Nachtlicht und kehrte in ihre Kammer zurück.

Quantz blieb unschlüssig stehen, und da tauchte, als habe es ihn die ganze Zeit begleitet, das Thema für sein Konzert wieder in ihm auf. Er eilte in seine Arbeitsstube zurück, stellte das Licht hin und nahm ein neues Blatt Notenpapier. Sechs Takte, acht …

Der alte Vivaldi aus Venedig hatte das Prinzip entwickelt, es selbst anhand Hunderter Werke für die verschiedenen Instrumente angewandt und sogar Quantz einst eine Lektion darin erteilt, wie man Konzerte gewissermaßen aus dem Ärmel schüttelte.

Über zwanzig Jahre war das jetzt her. Es war am Vorabend von einer der legendären Aufführungen von Vivaldis Opern gewesen – einem Spektakel, das weit bis in die Nacht gedauert hatte. Danach hatte sich der Venezianer – obschon geweihter Priester und offiziell im Zölibat lebend – mit der Sängerin Anna Giraud in einen der berüchtigten venezianischen Karnevalsbälle gestürzt. Quantz schwelgte in der Erinnerung an die feuchtschwüle Atmosphäre dieses Abends, an die bunten Masken und aufreizenden Kostüme, an den rot leuchtenden Wein, die ebenso roten Lippen der maskierten Damen, die rasenden Klänge des Orchesters. Den Rausch der Jugend …

Einen Moment war er versucht, sich in Sophies Schlafkammer zu schleichen, was er hin und wieder tat und was sie ihm nicht verwehrte, doch dann riss er sich zusammen und konzentrierte sich auf seine Arbeit.

Man erfand ein möglichst mitreißendes Kopfthema, das die Streicher vorstellten, während das Soloinstrument noch schwieg. War es einmal gefunden, leitete man aus einer der kleinen Notengruppen dieses Themas ein langes, sich auf verschiedenen Tonstufen wiederholendes Motiv ab und führte es zu einem brillanten Ende. Dann gab man dem Solisten – hier dem König mit der Flöte – den Einsatz mit demselben Thema. Der Solist hatte nun das Prinzip der sich wiederholenden Motive in allerlei Variationen vorzuführen, unterbrochen von den Streichern, die immer wieder das Hauptthema dazwischenwarfen, sodass ein Dialog entstand.

Dabei ging es durch mehrere Tonarten – mal wurde das Geschehen in melancholisches Moll gewendet, leuchtete dann wieder in erhabenem Dur, um ein prächtiges Ende zu finden, in dem alle Motive noch einmal wiederholt wurden.

Hatte man dieses Prinzip verstanden, konnte man damit erste und dritte Sätze für Konzerte bauen – wie ein Architekt, der einen Palast entwirft. Quantz selbst hatte das hundertfach getan – und hatte Vivaldi durchaus nachgeeifert. In den Mittelsätzen dagegen ging es um reine Melodien über sparsamer Begleitung.