Die Feder kratzte und kratzte über das Papier, und die Uhr schlug bereits zwei, als Quantz endlich mit dem Konzert fertig war.
Er hatte es wieder einmal geschafft. Es war ein Gefühl, als würde er nach einem langen, langen Marsch ein zentnerschweres Gewicht absetzen.
Vorsichtig legte er die Partitur zusammen, sodass ein kompakter Stapel Papier auf dem Pult lag. Sophie würde ihn morgen früh zum Kopisten bringen, der die Stimmen für die Aufführung vorbereitete.
Quantz wollte gerade das Licht nehmen und sich in sein Schlafgemach zurückziehen, da fiel sein Blick auf das Blatt, das Andreas mit seinen Noten beschrieben hatte. Es lag noch vor dem Fenster, wo es nach seiner Flucht zu Boden gefallen war. Vor lauter Arbeit an seiner Komposition hatte Quantz es vergessen.
Er faltete es auseinander. Und da stand das Thema wieder vor ihm.
Andreas hatte es hingeschrieben, als sei das gar nichts. Dabei war es nicht weniger als ein Wunder. Ein Rätsel.
***
Andreas reagierte zu langsam. Der Schatten bekam ihn am Arm zu fassen und zog ihn in den dunklen Eingang. Panisch versuchte er sich zu befreien, doch der Griff war eisern.
Bis zur Hauptwache war es nicht mehr weit. Zweihundert Schritte vielleicht. Wäre er nur sofort dorthin gelaufen! Aber er musste erst Herrn Quantz abschütteln, der ihm seine Melodie hatte stehlen wollen. Andreas hatte nicht verstanden, warum. Eigentlich war Herr Quantz einer von den Menschen, zu denen man Vertrauen haben konnte. Nun war Andreas kurz stehen geblieben. Das Blatt mit dem Thema war verschwunden. Offenbar hatte er es verloren. In diesem Moment hatte der Unbekannte zugeschlagen und wollte ihn ins Dunkel ziehen.
»Bleib ruhig«, zischte eine branntweingeschwängerte Stimme aus dem Loch. »Wenn sie uns kriegen, haben wir beide Ärger am Hals. Du mehr als ich.«
Eine Hand legte sich auf Andreas’ Gesicht. Sie stank nach Erde und Schmutz. Da war keine Haut, sondern eine dicke Schicht aus Horn und Narben. Das musste der Teufel sein.
Wärme breitete sich in seiner Hose aus. Er versuchte zu schreien. Doch er brachte nur ein Ächzen zustande.
Von irgendwoher trappelten Schritte. Soldaten näherten sich. Der Lichtkegel einer Laterne leuchtete das Loch hinter Andreas aus.
»Das büßt du mir bald«, zischte der Mann, gab Andreas einen Stoß, dass dieser auf das Pflaster stürzte, und rannte in die Nacht.
Ein brennender Schmerz am Knie ließ Andreas aufschreien. Mühsam erhob er sich. Seine Perücke war verrutscht. Er hatte es gerade geschafft, sie zurechtzurücken, als einer der Grenadiere ihn mit einer Handlampe anleuchtete.
»He, wer bist du?«, rief der Mann. Er trug als Einziger einen Hut mit drei Spitzen und nicht die hohen metallenen Grenadiersmützen. Es musste ein Offizier sein. »Bist du ein Mädchen? Hast du Angst im Dunkeln?«
Die Soldaten lachten. Der Offizier wurde als Erster wieder ernst. »Ein Lakai aus dem Schloss. Was treibst du dich hier herum?«
»Den kenne ich«, rief ein anderer. »Der ist nicht ganz richtig. Verpasst manchmal den Zapfenstreich.«
Der Offizier nickte. »Wir schaffen ihn morgen früh zurück.«
Zwei Grenadiere zogen Andreas mit sich fort in Richtung des Wachgebäudes. Es war ihm recht. Nur weg von dem Teufel.
»Du scheinst ja sehr erpicht auf deine Strafe zu sein«, sagte einer der Soldaten.
Je näher sie der Wache kamen, desto deutlicher machte sich Erleichterung in Andreas breit. Schließlich wurde er in das kleine Gebäude geschoben und auf eine Bank gesetzt.
»Ein Deserteur«, sagte der Offizier zu seinem Kameraden, der bei einer fahlen Lampe am Tisch saß, das Wachbuch vor sich. Das Gewehr lehnte gleich neben dem Stuhl.
»Er heißt Andreas Freiberger«, sagte der Soldat.
»Na, wenn ihn alle kennen, dann wisst ihr ja auch, was mit ihm zu tun ist.«
Andreas streckte sich auf der Bank aus. Die vier Mauern des Wachgebäudes sorgten für Sicherheit. So lag er da, die Augen zur Decke gerichtet, und wartete auf den Morgen.
2
In den warmen Monaten begann in Potsdam jeder neue Tag mit dem großen Wecken in der Morgendämmerung. Wenn das Licht so hell war, dass der wachhabende Offizier mit bloßem Auge einen Befehl lesen konnte, ging es los. Trommeln, Militärpfeifen und lautes Gebrüll rissen Bürger und Soldaten aus dem Schlaf. Innerhalb von Minuten strömten Tausende von blau, gelb und weiß gekleideten Gemeinen und höherer Dienstgrade durch die schnurgeraden Straßen. Um Punkt fünf Uhr hatten sie an ihren Appellplätzen zu stehen, um ihren Dienst zu beginnen. Wer zu spät kam, musste mit Prügeln oder sogar mit dem gefürchteten Spießrutenlaufen rechnen.
Zivilisten hätten in diesem Geschiebe und Gerenne nur im Weg herumgestanden, weshalb man am Morgen den Uniformierten den Vortritt ließ. Wenn man es nicht vermeiden konnte, auf der Straße unterwegs zu sein, quetschte man sich vorsichtig an den Häuserzeilen entlang – immer darauf gefasst, dass die nächste Tür aufflog und Rennende einen Grenadiere in voller Montur zur Seite stießen.
Quantz konnte sich an diesen morgendlichen Lärm, der Tag für Tag mit der Unbarmherzigkeit eines Erdbebens die Stadt heimsuchte, auch nach Jahren in Potsdam nicht gewöhnen. Er fuhr aus dem ersten tiefen Schlaf, drehte sich auf den Bauch, schob sich sein Kissen über die Ohren – vergeblich. Ihn störte nicht nur der Krawall der Soldaten unten in seinem Haus und auf der Straße. Das rasselnde Getrommel und das Gequäke der militärischen Oboisten bereiteten ihm Höllenqualen. Nach einer Stunde, gegen sechs Uhr, wenn der erste Sturm vorbei war, fand er gewöhnlich noch etwas Schlaf. Mit etwas Glück machten die aufscheuchenden Rhythmen des Militärs in seinen Träumen einer anderen Musik Platz – einem der königlichen Konzerte etwa, das sich inmitten des Spektakels wie eine liebliche Rose in einer Wüste ausnahm.
Er erhob sich gegen elf, streckte seinen schmerzenden Rücken und öffnete das Fenster. Ein Schwall der lauen Mailuft kam ihm entgegen.
Jetzt war es wieder stiller in der Stadt. Nur von Ferne wehte der rasselnde Klang von Trommeln herüber. Dazwischen waren markante Rufe zu erahnen. Unten am Stadtschloss hatte die tägliche Parade begonnen, die der König gewöhnlich persönlich abnahm.
Es klopfte an der Tür.
»Komm herein, Sophie«, sagte Quantz.
Die Dienstmagd trug ein Tablett in der Hand, auf dem sich eine kleine Kaffeekanne und ein Teller mit etwas Gebäck befanden. Diese Art des Frühstücks hatte sich Quantz in seiner Zeit in Paris angewöhnt. Sie belastete den Magen nicht so sehr wie das in Preußen verbreitete morgendliche Suppenfrühstück aus Milch oder zerstampften Kartoffeln.
»Was gibt es heute?«, fragte er, obwohl er es wusste, und setzte sich. Es gefiel ihm, dass Sophie nicht nur einfach eine Haushälterin war, sondern auch Anteil an seiner Arbeit hatte und dass sie sich für das interessierte, was er tat. Dass sie sich gelegentlich sogar seine Kompositionen anhörte, bevor er sie dem König vorstellte. Natürlich war sie ein ungebildetes Frauenzimmer und verstand nicht das Geringste von Musik. Nicht im fachlichen Sinne. Aber sie hatte einen sicheren Geschmack. Denn sie besaß nicht nur Verstand, sondern auch Herz.
»Am Nachmittag kommen Herr Graun, Herr Benda, Herr Engke, Herr Mara und Herr Bach. Danach haben Sie Konzert beim König. Und hier ist noch etwas. Ein Brief von Ihrer Frau.«
Sophie schob die Untertasse zur Seite. Ein zusammengefaltetes und versiegeltes Papier wurde sichtbar.
Den Brief konnte er vernachlässigen. Er ahnte, was darin stand. Anna hatte das Porto sicher wieder hauptsächlich dafür aufgewendet, um ihn um mehr Geld zu bitten.
»Ist die neue Partitur beim Kopisten?«
»Seit halb acht heute Morgen.«