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Das Gewühl auf der Straße gab ihm Sicherheit. Doch irgendetwas sagte ihm, dass der Unbekannte um ihn war, ihn vielleicht genau in diesem Moment beobachtete. Aber jetzt, am Tage, konnte er ihm ja nichts tun. Überall waren die blauen Röcke der Soldaten zu sehen. Die Grenadiere würden ihn beschützen, wenn er Hilfe brauchte. Und niemand tat doch einem Schlossbediensteten etwas am helllichten Tag und auf offener Straße. Jedenfalls redete sich Andreas das ein.

Rechts neben ihm wurde die träge Wasserfläche des Kanals sichtbar. Ein längliches Boot schob sich geräuschlos vorbei.

Da war der Gasthof. Andreas beschleunigte seine Schritte und erreichte die Eingangstür.

Der Flur war dunkel. Es roch nach Kohl und Kartoffeln. Jetzt wurde die Erinnerung an das Erlebnis der Nacht wieder stärker. Etwas regte sich am Ende des Ganges. Jemand kam auf ihn zu. Die plötzliche Angst schnürte Andreas’ Brust ein, doch dann erkannte er, dass es nur der Gastwirt war.

»Was willst du? Ah, ein Brief. Für Herrn La Mettrie. In Ordnung, Junge. Kannst wieder gehen.«

Es war besser, solche Briefe persönlich abzugeben – um sicher zu sein, dass sie wirklich ankamen. Und wegen des Trinkgeldes. Doch Andreas wollte wieder hinaus. Weg von dem Flur, wo ihm jemand auflauern konnte. Er lief auf die Straße, den Kanal entlang.

Nur ein kleines Stück entfernt wohnte Herr Quantz. Vielleicht sollte er die Gelegenheit nutzen, um ihn zu besuchen. Es war immer noch etwas offen zwischen ihnen. Die Sache mit der Melodie, die er Herrn Quantz erklären wollte. Aber wie sollte er das tun? Er verstand selbst nicht, warum es ihm unmöglich war, einfach den Mund zu öffnen und zu sprechen. Er musste sich auf andere Weise ausdrücken. Schreiben konnte er mit Mühe, Lesen ein ganz kleines bisschen, wenn man ihm Zeit ließ.

Das Haus kam in Sicht. Drei Kutschen standen vor der Tür. Die Fahrer dösten auf ihren Böcken. Aus einem offenen Fenster aus dem ersten Stock drang Musik. Andreas sah in das Laub des Baumes vor der Fassade hinauf. Die Melodien von dort oben gaben ihm seine Sicherheit zurück. Sie beruhigten ihn.

Er blieb an dem Holzgeländer des Kanals stehen und schloss die Augen. Als die Musik zu Ende war, konnte er nicht umhin und klatschte in die Hände.

Und dann sagte jemand etwas. Andreas erkannte die Stimme. Sie hatte in der Nacht zu ihm gesprochen.

Das büßt du mir!

Er hatte die Worte noch genau in den Ohren.

Wo war die Stimme hergekommen? War der Mann in der Nähe? Andreas öffnete die Augen. Es klirrte, als jemand das Fenster schloss.

Ohne nachzudenken, lief Andreas an den Kutschen vorbei in das Haus. Die Tür war, wie bei den meisten Häusern in Potsdam, tagsüber unverschlossen. Oben unterhielten sich Menschen.

War er in die Falle gegangen? Was, wenn der Teufel hier auf ihn lauerte? Ihn herlocken wollte? Nein, Andreas war sicher, dass die Stimme nicht aus dem Haus gekommen war. Vielleicht hatte er sich auch getäuscht. Hier, bei Herrn Quantz, war er sicher.

Hinten führte eine weitere Tür in ein Gärtchen, das bis an eine Mauer reichte. Gerade Reihen aufgehäufelter Erde bedeckten die kleinen Beete. Hier konnte er sich nirgends verstecken.

Eine andere Tür. Eine Treppe. Da ging es in den Keller. Modriger Geruch drang herauf.

Andreas stieg hinunter ins Dunkel. Etwas Weiches streifte über seine Wange. Er zuckte vor Schreck zusammen. War da jemand? Vorsichtig streckte er die Hand aus. Seine Finger trafen einen Vorhang, der ein Regal bedeckte. Andreas stand in der Dunkelheit und wartete. Er konnte lange stehen, lange warten, sich lange unsichtbar machen.

Dann waren von oben wieder die Stimmen zu hören. Mehrere Personen kamen die hölzerne Treppe herunter und verließen das Haus.

Nach einigen Momenten schnaubten draußen die Pferde, und die Kutschen setzten sich in Bewegung.

Andreas, der immer noch reglos dastand, tastete sich in eine Ecke und kauerte sich hin.

3

Quantz nickte kurz dem Fuhrmann Lukas Brede zu, der mit seinen Gehilfen wie so oft für den Transport ins Schloss sorgte. Es waren drei Coupé-Kutschen, die die Musiker beanspruchten – kleine Fahrzeuge, mit denen man am besten durch die engen Straßen kam.

Quantz versuchte Bach zu ignorieren, der neben ihm saß, die feisten Knie angezogen, und mit der Hand eine imaginäre Melodie auf dem Oberschenkel spielte.

Es dauerte knapp zwanzig Minuten, bis man vom Haus des königlichen Flötisten aus das Schloss erreichte, und in dieser Zeit wollte sich Quantz dem Gefühl der wachsenden Erregung hingeben, das ihn erfüllte.

Gemütlich zogen die gleichförmigen Fassaden an ihnen vorüber. Je näher sie dem Tor kamen, desto mehr zwei- bis dreistöckige Steinhäuser gab es, die auf Befehl des Königs seit einigen Jahren nach und nach entstanden. Sie strahlten mit ihren gleichmäßigen Fensterreihen und den kleinen Freitreppen zu den hochgelegenen Eingängen hin eine beruhigende Ordnung aus. Die Kutsche wurde noch langsamer, als sich der Tross dem Tor näherte. Die Wachen kannten die Hofmusiker und wussten, wo sie hinwollten. Man winkte sie durch, und sie bogen nach rechts auf die Straße ab, die sich in großen Kurven nach Sanssouci hinaufwand. Dabei entstand Geruckel. Quantz und Bach stießen mit den Knien aneinander.

»Seltsam, dass der König mit immer demselben Konzert zufrieden ist«, sagte Bach in einem beiläufigen Tonfall, als spreche er vom Wetter.

Quantz trafen die Worte wie Messerstiche. »Wie meinen Sie das?«, fragte er. Dabei wusste er es genau.

»Nun, Herr Quantz – seien wir doch einmal ehrlich. Das Muster eines solchen Concertos ist immer dasselbe. Als ob man einen Automaten die Musik schreiben lassen würde.«

Quantz bemühte sich, den aufflammenden Ärger nicht zu zeigen. »Es sind Gefühle, die darin zum Ausdruck kommen, Herr Bach. Gefühle wie Freude, Liebe oder Erhabenheit. Diese Gefühle sind auch immer dieselben. Der Dichter beschreibt sie mit immer anderen Worten, der Musiker mit immer anderen Tönen. Doch was in den Menschen vorgeht und auf welche Weise es sich vollzieht, bleibt sich immer gleich. Es ist ewig. Ich muss mich wundern, dass Ihnen als Musiker dieser Gedanke so fremd zu sein scheint.«

Bach hatte nicht aufgehört, auf seinem Knie Klavier zu spielen. Quantz glaubte, den Rhythmus des imaginären Stücks zu erkennen. Dann wurde ihm klar, dass Bach das Thema seines Konzerts spielte – nein, nicht spielte. Er klimperte es. Als sei es gar nichts.

»Und doch sind die Menschen alle verschieden, oder nicht?«, sagte Bach.

Quantz wandte den Blick ab und betrachtete das hohe Gitter, hinter dem sich die lange Flucht des Hauptweges des Schlossparks in der Ferne verlor – unterbrochen durch ein rundes Wasserbassin. Wie es hieß, hatte Seine Majestät vor, es mit einer Fontäne zu verschönern. Leider war dieser Plan bisher an technischen Problemen gescheitert. »Ich möchte nicht mit Ihnen über künstlerische Fragen räsonieren«, sagte er scharf. »Wir haben unseren Dienst zu verrichten. Und das sollten wir zur vollsten Zufriedenheit des Königs tun.«

»So sind wir also weniger Künstler als Diener«, sagte Bach. »Darin, lieber Herr Quantz, muss ich Ihnen recht geben. Sie machen keine Kunst. Sie verrichten einen Dienst.«

Quantz biss die Zähne zusammen. Der Fuhrmann hatte das Tempo angezogen. Jetzt ging es den Berg hinauf, sie wurden wieder langsamer. Als sie oben angekommen waren, mussten die Pferde noch eine letzte Steigung nehmen: die gerade, breite Rampe, die hinauf in den Ehrenhof führte, ein Halbrund aus Doppelsäulen, das den Eingang des Schlosses umgab.

Kies knirschte. Die Kutschen hielten.

An keinem anderen Hof, an dem Quantz je als Musiker gedient hatte, hatte er die herrschaftlichen Räumlichkeiten durch den offiziellen Eingang betreten dürfen. Musiker waren in den Residenzen nicht mehr als Hofbedienstete, die weit unten in der Rangordnung standen. In Sanssouci war ihnen der herrschaftliche Zugang gestattet.