Die Aufseher an den Eingängen kannten Quantz und ließen ihn passieren. Er wandte sich dem Bereich hinter der Bühne zu. Auf schmalen Fluren kam er an Bühnenarbeitern vorbei, traf auf eine Gruppe geschminkter Damen des Balletts, folgte engen Treppen und näherte sich dann den Räumen, wo sich die Instrumentalmusiker und Sänger vorbereiteten. Viele Stimmen klangen durcheinander. Helle Soprane, Bässe, Tenöre. Dazwischen fiedelten Geigen, tröteten Hörner und näselten Oboen.
Im Vorbereitungsraum der Musiker trafen ihn erstaunte Blicke. Manche mochten sich über seine Anwesenheit wundern, denn der Kammermusikus hatte hier nichts zu tun. Seine Aufgaben lagen im direkten Umkreis des Königs und dessen Privatmusik, nicht in der Oper.
Doch Quantz hatte noch vor wenigen Jahren mit dem Gedanken gespielt, sich an Opern zu versuchen. An einigen Werken hatte er mitgearbeitet und kleine Arien beigesteuert. Damals hatte er in dem bevorzugten Bühnenkomponisten Seiner Majestät, Carl Heinrich Graun, dem Bruder des Konzertmeisters Johann Gottlieb, einen Freund gewonnen. Quantz war schließlich zu dem Schluss gekommen, dass ihm die Vokalmusik nicht lag, und so waren seine Bemühungen auf dem Gebiet der Oper eingeschlafen.
Doch jedes Mal, wenn er eine Vorstellung besuchte, packte ihn eine nicht allzu kleine Portion Neid. Die Oper war die musikalische Gattung, mit der man die Massen begeistern konnte. Ganz Berlin sprach von den Werken, sobald die Premiere vorüber war. Der Name des Komponisten stand auf Plakaten, er wurde sogar in Zeitungen erwähnt. Quantz war zwar ebenfalls kein unbekannter Mann, doch er wirkte im Verborgenen.
»Oh, der Herr Maestro«, sagte eine weiche Frauenstimme neben ihm.
Er wandte sich um und blickte in das hübsche, puppenhafte Gesicht von Barbara Campanini – der italienischen Tänzerin, die Friedrich eigens hatte entführen lassen, um sie an die Berliner Oper zu bringen. Man sagte, sie, die man hier nur »Barbarina« nannte, sei die einzige Frau, an der dem König gelegen sei. Böse Zungen meinten, es liege daran, dass sie sehr männliche Beine habe. Was eine Lüge war, wie sich Quantz gerade überzeugen konnte. Die Barbarina war bereits im Kostüm und trug ein Röckchen, das nur bis zu den Knien reichte.
»Was führt Sie in die Oper, Maestro?«, fragte sie.
Quantz machte einen höflichen Diener. »Geschäfte führen mich hin und wieder nach Berlin. Und natürlich lasse ich es mir nicht entgehen, Ihre Kunst zu genießen«, fügte er hinzu, denn das war es, was sie offensichtlich hatte hören wollen.
»Molto gentile«, sagte die Italienerin und sah Quantz versonnen an. »Wenn Sie mich entschuldigen …«
Er wollte sich den Musikern zuwenden, da öffnete sich die Tür, und ein Bediensteter des Theaters gab das Signal zum Beginn. »Bitte auf die Bühne«, rief er.
Alle strebten dem Ausgang zu, und Quantz musste Platz machen.
Bach drängte sich an ihm vorbei. »Herr Kammermusiker? Sie hier? Wollen Sie einmal echte Musik kennenlernen?«
Quantz legte die Hand auf Bachs Schulter. »Ich möchte Sie sprechen«, sagte er.
»Das ist, wie Sie sehen, gerade nicht möglich.«
»Später vielleicht?«
»Später haben wir noch zu tun. Wir sind privat geladen.«
Der Cembalist wollte sich losmachen, die anderen Musiker drängten weiter, und ein Stau entstand. Jeder hatte ein Instrument in der Hand – von der Flöte bis zum sperrigen Violoncello. Bach und Quantz standen im Weg.
»Können Sie sich nicht woanders unterhalten?«, kam es vom Cellisten Mara.
»Vielleicht im Stadtschloss?«, fragte Quantz.
»Lassen Sie mich gehen.« Bach machte sich los und folgte den anderen.
Quantz lief zurück durch die Gänge und gelangte ins Foyer, das voller Menschen war. Vor der Oper drängten sich die Kutschen.
Ihn erfasste Unruhe. Stunden würde er nun brauchen, bis er mit Bach sprechen konnte. Dabei hatte ihm das Gespräch mit La Mettrie so viel Elan gegeben. Er versuchte, sich zu entspannen und die Aufführung zu genießen.
Gewohnheitsgemäß plauderten die Zuschauer noch weiter, auch wenn die Ouvertüre schon begonnen hatte. Der Vorhang öffnete sich, und erst jetzt realisierte Quantz, welches Stück gespielt wurde. Die Oper hieß »Cinna«. Graun hatte sie komponiert.
Den Stoff hatte Seine Majestät höchstpersönlich vorgeschlagen. Er stammte aus der von dem Monarchen so sehr geschätzten französischen Literatur. Am Neujahrstag hatte das Werk seine Uraufführung erlebt. Quantz vergegenwärtigte sich die Handlung – ein Ränkespiel aus Machtgier rund um den römischen Kaiser Augustus, dem es am Ende oblag, mit einem Akt der Gnade das ganze Geflecht aufzulösen. Natürlich ehrte man mit der Zurschaustellung eines so weisen Herrschers niemand anders als Friedrich selbst.
Seiner Majestät war es tatsächlich gelungen, in Preußen, fern von Italien, eine hervorragende Oper zu begründen. Das lag sicher daran, dass der König selbst größten Einfluss auf die Stoffe nahm und als Kenner der Musik auch beurteilen konnte, was in diesem Musiktheater gespielt wurde und was nicht. Es hieß, in den Schubladen seines Arbeitszimmers schlummerten Ideen für recht kühne Opernprojekte. So zum Beispiel für das Werk, das im fernen Amerika spielen sollte. Mit dem legendären Fürsten Montezuma als Hauptfigur. Quantz hatte in einigen Büchern und Zeitungsartikeln über den fremden Kontinent gelesen. Dort sollte es fremdartige Tiere, riesige Wälder voller exotischer Pflanzen, gewaltige Flüsse und viel höhere Berge als in Europa geben. Eine solche Kulisse war natürlich eine dankbare Vorlage für die Bühnentechniker. Darüber hinaus befanden sich die Eingeborenen Amerikas noch im Zustand paradiesischer Unschuld. Sie gingen wie Adam und Eva vor dem Sündenfall nackt umher. Quantz hatte dergleichen auf Holzschnitten in Büchern gesehen. Wenn Seine Majestät ein Ballett auf die Bühne brachte, das sich an diesen Vorbildern orientierte, dann würde das Werk ein Renner werden. Jeder würde die unbekleideten Wilden auf der Bühne sehen wollen. Grauns Musik war dabei gar nicht so wichtig. Und die tiefere Bedeutung der fürstlichen Tugenden auch nicht.
Während die Figuren in der vergleichsweise langweiligen Oper »Cinna« auf der Bühne ihrem Schicksal entgegengingen, tauchten bunte, erregende Bilder in Quantz’ Phantasie auf.
Als die Oper zu Ende war und der erste Applaus aufbrandete, stand Quantz auf und wandte sich dem Ausgang zu. Längst war die Nacht hereingebrochen. Auf dem Platz vor dem Opernhaus bestieg Quantz ein Mietcoupé und ließ sich zur Rückseite des Gebäudes fahren.
»Platziere Er sein Gefährt so, dass ich am Kanal entlang zum Neuen Tor sehen kann«, wies er den Kutscher an. »Und keine Sorge. Wir werden unsere Fahrt noch machen.«
Das Neue Tor bildete eine Brücke zwischen dem Opernplatz und Friedrichswerder – dem Teil Berlins, der sich an die Spree schmiegte, auf deren länglicher Insel das Stadtschloss lag. Die Brücke überspannte den schnurgeraden Kanal und war der Endpunkt der langen Straße »Unter den Linden«, die am Opernhaus vorbei zu der Brücke führte.
Ab und zu kamen Passanten vorbei und unterhielten sich lautstark. Eine Patrouille hielt an. Der vorbeireitende Offizier blickte misstrauisch auf das wartende Coupé. Je länger er auf den Seiteneingang der Oper – eine kleine Tür, über der eine Lampe brannte – blickte, desto mehr wuchs seine Ungeduld. Endlich kam eine große Kutsche um die Ecke gerumpelt und hielt. Kurz darauf stieg jemand von der anderen Seite zu. Quantz erkannte Barbarina, die sich abholen ließ.
Der König hatte die Italienerin zwar unter Zwang nach Berlin geholt, aber er gestand ihr ein ungeheures Salär zu, das es ihr erlaubte, ein hochherrschaftliches Haus zu führen. Ihre Residenz in der Behrenstraße war ein Palais, das einer Prinzessin würdig gewesen wäre.