Quantz erkannte eine zweite Figur, die sich mit in die Kutsche setzte. Wahrscheinlich war es einer der vielen Liebhaber, die die Künstlerin angeblich umschwirrten. Seine Majestät hatte ihr klipp und klar verboten zu heiraten, solange sie in preußischen Diensten stand, und er streute das Gerücht, selbst an ihr interessiert zu sein. Jeder, der den König kannte, wusste, dass es sich dabei um einen Vorwand handelte. Friedrich hatte eher ein Interesse an Männern – und weil viele strenge Zeitgenossen, vor allem in Kreisen der Kirche, diese Neigung für höchst sündhaft hielten, versuchte Friedrich, sich das Etikett eines Frauenverehrers zu geben. Mehr schlecht als recht, aber die Fassade war gewahrt.
Die Kutsche mit der Tänzerin verschwand in der Dunkelheit.
Quantz stellte sich schon auf eine längere Zeit des Wartens ein, da öffnete sich die Tür, und die Musiker kamen heraus. Er erkannte Bach, Graun und Benda mit ihren Geigenkästen und Mara mit dem großen Cello. Und andere, die allerdings nicht zur Kammermusik des Königs gehörten.
Die Musiker hätten eigentlich ihre Quartiere aufsuchen können, doch Bach, Graun, Benda und Mara blieben zurück. Sie unterhielten sich leise. Immer wieder fuhren Kutschen vor. Die Musiker schienen auf jemanden zu warten.
Quantz hätte direkt zum Berliner Stadtschloss fahren können. Aber er war sich nicht sicher. Wer sagte, dass die Zusammenkunft wieder dort stattfand? Ob sie heute Nacht wohl überhaupt stattfand? Vielleicht hatte Bach am Ende doch die Wahrheit gesagt, als Quantz das private Engagement angesprochen hatte?
Es kam häufig vor, dass die Musiker nach ihren Diensten in der Oper oder nach einem Hofkonzert zu einem Empfang geladen wurden und sich auf diese Weise etwas dazuverdienten. Solche Engagements gehörten zum Leben eines Musikers wie das tägliche Üben. Quantz selbst hatte sich früher mit seiner Flöte in den Häusern angesehener Bürger und in den verschiedenen Adelshäusern in der Stadt und ihrer Umgebung hören lassen, bis er zum persönlichen Musiker des Königs wurde.
Immer noch beobachtete er das Treiben hinter dem Opernhaus, und mehr und mehr nagte der Zweifel an ihm. War er vielleicht umsonst nach Berlin gefahren?
Da kamen drei Kutschen um die Ecke, hielten vor den Musikern, und ohne zu zögern stiegen sie ein.
»Folgen«, zischte Quantz seinem Fahrer zu.
Der Mann auf dem Bock schien aus einer Trance zu erwachen.
»Los! Sie fahren zum Neuen Tor. Folge Er mit Abstand. Unauffällig.«
Der Fuhrmann wartete, bis die anderen Gefährte die Brücke erreicht hatten, und trieb erst dann die Pferde an.
Schnurgerade fuhr die Kutsche über Friedrichswerder hinweg und passierte die zweite Brücke zur Insel hinüber. Rechts erhob sich der Block des Schlosses vor dem nächtlichen Himmel. Einige beleuchtete Fenster blickten wie funkelnde Augen in die Nacht. Links lagen der Dom, die Hofbibliothek und das runde Gebäude der Börse, davor die weite Fläche des Paradeplatzes.
Diesmal wurde die Kutsche der Musiker nicht von Soldaten begleitet.
In diesem Moment blieb die Kutsche stehen.
»Was ist los?«, fragte Quantz mit gedämpfter Stimme.
»Da hinten sind Wachen«, sagte der Kutscher. »Die anderen sind durchgekommen, aber uns wird das wohl nicht gelingen.«
»Fahr Er mich doch noch bis zu der Sperre«, rief Quantz. Wenn man Eindruck machen wollte, durfte man nicht zu Fuß auftauchen.
Sie erreichten die Soldaten. Einige hielten Fackeln. Einer riss den Schlag auf und sah Quantz an. »Name?«
»Quantz, königlicher Kammermusikus.«
»Er steht nicht auf der Liste.«
»Weiß Er das so genau?«
»Mit Sicherheit.«
»Das mag schon sein. Lass Er mich trotzdem passieren. Ich bin zur Musik geladen.«
»Warum ist Er dann nicht auf der Liste?«, beharrte der Soldat.
»Weil ich heute früh noch in Potsdam bei Seiner Majestät war.«
»Hat Er eine Einladung?«
»Nein.«
»Dann kann Er nicht durch.«
Quantz atmete tief ein, als wolle er ein Flötenkonzert spielen. »Das wird ein Nachspiel haben. Ich muss passieren.«
»Wir haben unsere Ordre.«
Der Soldat wandte sich ab, er war offenbar nicht mehr bereit, sich länger mit Quantz abzugeben. In diesem Moment erreichte noch eine Kutsche den Platz – ein großes, luxuriöses Gefährt, wie es nur hochgestellte Persönlichkeiten benutzten. Im Licht der Öllampen war nicht zu erkennen, wer darin saß. Doch überdeutlich erschien der preußische Adler auf der Seitentür. In der Kutsche saß also ein Mitglied des Königshauses.
Die Wachen öffneten die Phalanx und nahmen Haltung an. Der Kutscher, in der hellen Livree der Hoflakaien gekleidet, wollte gerade die Pferde antreiben, da stieg Quantz rasch aus und lief hinüber zu der königlichen Kutsche.
Die Soldaten reagierten sofort und stellten sich ihm in den Weg. Einmal mehr sah sich Quantz spitzen Bajonetten gegenüber.
»Was macht Er?«, brüllte einer der Grenadiere.
»Kutsche passieren lassen«, rief ein anderer.
Quantz wich langsam zurück. Er hatte nicht erkennen können, wer in der Kutsche saß.
»Verlasse Er den Platz«, schrie der Soldat, der ihn eben kontrolliert hatte.
Quantz nickte und hielt die Hände vom Körper entfernt, um den Grenadieren zu zeigen, dass er unbewaffnet war und keine Gefahr von ihm ausging.
Als er fast wieder bei dem gemieteten Coupé stand, wartete die königliche Kutsche immer noch. Quantz fragte sich, warum sie nicht weiterfuhr. Doch da bewegte sich etwas in dem Fenster der Tür. Eine blasse Hand löste sich aus dem Dunkel und machte eine winkende Bewegung. Als sei dies ein Zeichen gewesen, zogen die Pferde an, und das Gefährt setzte sich in Richtung des Schlosseingangs in Bewegung.
Der Offizier kam auf Quantz zu.
»Ich bin schon dabei, mich zu entfernen«, sagte Quantz schnell. »Lassen Sie mich nur die Kutsche besteigen.«
Der Soldat schüttelte den Kopf. »Kommen Sie mit«, sagte er überraschend freundlich.
Quantz durchfuhr ein heißer Schrecken. »Wollen Sie mich verhaften?«
»Nein. Ich soll Sie in das Schloss lassen. Auf höchsten Befehl.«
Wie schon vor einigen Tagen betrat Quantz des Schloss durch den Dienstboteneingang. Das Treppenhaus lag wieder im völligen Dunkel. Er folgte nur den Geräuschen, die er von oben vernahm: gedämpfte Stimmen, einige Probetöne auf einer Geige, ab und zu ein Cembaloakkord.
Als er das Stockwerk erreichte, wo sich die Musiker versammelt hatten, strahlte ihm Licht von mindestens fünfzig Kerzen entgegen. Die Tür zu dem Saal stand offen. Als sich Quantz dem Eingang näherte, drehten sich viele Gesichter zu ihm um. Er erkannte Bach, Mara, Graun, aber auch andere Persönlichkeiten des Hoflebens wie Graf von Keyserlingk, den russischen Gesandten, der musikalisch sehr interessiert war.
Der Raum war ein ehemaliges Gästezimmer, das viel größer war als die kleinen Säle in Sanssouci. Man hatte ihn vollkommen leer geräumt, um Platz für Stühle zu schaffen. Sie waren auf eine Ecke dem Eingang gegenüber ausgerichtet, wo ein Cembalo stand, umgeben von mehreren Notenpulten. Etwas abseits davon stand ein größerer Sessel.
Als Erster löste sich der Graf aus der Menge und kam auf Quantz zu. »Mein lieber Herr Kammermusikus«, sagte er. »Ich freue mich, dass auch Sie zu unserem Kreis gestoßen sind. Dabei dachte ich, dass Sie unsere Auffassungen der Musik nicht teilen.«
Quantz begrüßte von Keyserlingk höflich, blickte in die Runde und stieß auf Bachs unverhohlen abschätzigen Gesichtsausdruck. »Ich weiß nicht, wem ich die Ehre zu verdanken habe, hier zu sein.« Er fragte sich immer noch, was das hier überhaupt für eine Veranstaltung war.
»Sie sprechen in Rätseln, Herr Kammermusikus.« Der Geräuschpegel im Raum hatte sich nach seinem Erscheinen gesenkt. Jeder hörte nun den beiden zu.
»Jemand hat den Soldaten unten befohlen, mich durchzulassen«, sagte Quantz.