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»Selbstverständlich, Eure Königliche Hoheit, jedoch … erlauben Sie mir eine Frage. Herr Bach hat das Thema bearbeitet? Er hat daraus ein Werk geschaffen? Warum hat der König niemals etwas davon gesagt? Oder hat Herr Bach es dem König nicht vorgelegt?«

»Er hat, lieber Herr Quantz. Und wie er hat. Sehen Sie dies.« Sie hielt ihm das dicke Notenheft hin. Es war gedruckt, und auf der Titelseite prangte in wunderschöner Schrift ein Titeclass="underline" Musicalisches Opfer. Außerdem eine Widmung: Regis Iussu Cantio Et Reliqua Canonica Arte Resoluta. Quantz raffte sein Latein zusammen. Sinngemäß stand da: Ein auf königlichen Befehl geschriebener musikalischer Satz und andere in der Kunst des Kanons gehaltene Stücke.

»Sie können es gern durchblättern, Herr Quantz. Aber vorsichtig. Es ist das einzige Exemplar, das wir haben.«

Quantz nahm das Heft und sah es sich an. Es genügten ein paar Blicke auf die Seiten, um zu erkennen, was es enthielt. Der alte Bach hatte in äußerst kunstvoller Arbeit das Thema, das ihm der König vor einem Jahr gestellt hatte, zu einem Wunderwerk ausgearbeitet. Er hatte nicht nur die verlangte sechsstimmige Fuge komponiert, sondern noch eine ganze Reihe anderer Stücke in verschiedener Stimmenzahl und Besetzung dazu geschrieben. Darunter befand sich auch eine große Sonate in vier Sätzen, besetzt mit Flöte, Violine und Cembalo mit Bassstimme – also gedacht für Seine Majestät selbst, Graun und Bachs Sohn. Carl Philipp Emanuel Bach hatte das Thema als subtile Rache an seinem Vater dem König untergeschoben. Weil er seinen Vater, den übermächtigen Meister des Kontrapunkts, hatte scheitern sehen wollen. Doch Johann Sebastian Bach hatte gesiegt. Wusste Amalia wohl von dieser Intrige?

»Mein Bruder hat Herrn Kantor Bach noch nicht einmal für diese Gabe gedankt«, sagte die Prinzessin. »Er weiß es nicht zu schätzen. Es trifft nicht seinen Geschmack. Der König hat mir das Heft schicken lassen, weil er meine jüngsten Ambitionen kennt.«

»Ihre jüngsten Ambitionen, Königliche Hoheit? Welche wären das? Sie sind doch in der Musik bereits gut ausgebildet.«

»Nicht gut genug, mein lieber Herr Quantz. Im Gegensatz zu meinem Bruder beabsichtige ich nicht, mich mit klingenden Galanterien im italienischen oder französischen Geschmack abzugeben, wie sie – verzeihen Sie – auch Ihrer Feder entfließen. Mir ist an der Kunst des Kontrapunkts gelegen. Dieses Werk vom alten Bach hat mir die Augen und die Ohren geöffnet. Diese Perfektion, diese Harmonie – es ist die Sache wert, dass jemand die Grundlagen dieser Kunst erforscht. Daher bin ich auf der Suche nach Männern, die diese Forschungsarbeit leisten können. Mit anderen Worten: Ich baue einen musikalischen Kreis auf, der sich mit diesen Künsten befassen soll. Wer weiß? Vielleicht wird das Fach der Wissenschaft der Musik eines Tages Teil der Königlichen Akademie der Wissenschaften und an Universitäten gelehrt? Noch zieht mein Bruder es vor, eigenartigen französischen Tiersammlern oder Maschinenmenschen in seinen wissenschaftlichen Einrichtungen das Sagen zu überlassen, aber das kann sich ja ändern.«

»Warum laden Sie nicht Herrn Bach aus Leipzig persönlich ein? Er wird Ihnen alle Geheimnisse dieser Kunst beibringen können.«

»Herr Kantor Bach ist alt und krank. Seine Sehfähigkeit lässt nach, bald wird er ganz erblinden. Er kann nicht mehr reisen. Darüber hinaus ist er kein Theoretiker. Er äußert sich nicht gern über die Musik. Er erschafft sie einfach. Aber wir schätzen uns glücklich, seinen Sohn hier zu haben und dazu einen seiner hervorragendsten Schüler – Herrn Mizler. Ich habe ihn gebeten, mich bei meiner Suche nach Musikern, die zu meinem Kreis passen könnten, zu unterstützen.«

Es gab also tatsächlich einen Musikerkreis. Einen, der sich mit der strengen Kunst des Kontrapunkts und der Harmonie befasste. Offenbar suchte Amalia nicht nur einen Lehrer, sondern wollte auch eine eigene Hofkapelle zusammenstellen, um Werke in diesem Stil aufzuführen.

»Es ist gut, dass Sie gekommen sind, Herr Quantz«, sagte die Prinzessin. »Heute haben wir vor, die Sonate zu probieren, die Sie in dem Heft gesehen haben. Es wäre wunderbar, wenn Sie uns die Ehre geben und den Flötenpart übernehmen.«

Quantz durchzuckte ein leichter Schreck. Soweit er es gesehen hatte, war der Flötenpart nicht leicht. Doch er durfte sich nichts anmerken lassen, denn er hatte einen Ruf zu verlieren. Quantz galt nach wie vor als Erster Flötist in Preußen.

»Es ist mir eine Ehre, Majestät«, sagte er. »Aber wo nehmen wir ein Instrument her?«

»Ich selbst besitze eine Flöte von Ihnen, Herr Quantz. Mein Bruder hat sie mir einst geschenkt. Vielleicht erinnern Sie sich?« Die Prinzessin hatte Flöte gespielt, bevor sie sich mehr für das Cembalospiel zu interessieren begonnen hatte. Jedoch war sie über die Anfangsgründe nicht hinausgekommen. »Ich habe das Instrument bereits holen lassen.«

In diesem Augenblick trat einer der Lakaien mit einem hölzernen Kasten zu ihnen und reichte ihn auf Amalias Wink Quantz. »Herr Graun wird den Violinpart übernehmen, Herr Bach das Cembalo, Herr Mara den Bass. Ich bitte nun darum, zu beginnen.«

Bach und Graun traten vor, Quantz nahm die Flöte aus dem Kästchen baute sie zusammen. Graun hatte seine Violine in der Hand, wahrscheinlich wusste er, was kam, und hatte sich vorbereitet. Bach saß schon vor der Tastatur.

Die Prinzessin nahm in dem Sessel Platz, erst dann setzten sich alle anderen Besucher. Es waren bestimmt zwanzig oder dreißig. In der vordersten Reihe saß Graf Keyserlingk.

Bach legte die Noten zurecht. Es gab keine Kopie des Werkes, auch hatte niemand die Einzelstimmen herausgeschrieben. Quantz und Graun standen auf je einer Seite hinter dem Cembalisten und mussten ihre Noten aus der Partitur heraus entziffern. Kein leichtes Unterfangen, vor allem nicht bei einem so komplizierten Werk.

Quantz setzte die Flöte an. Etwas hemmte ihn an der freien Bewegung. Es war das Notenkonvolut von Andreas, das immer noch in seiner Innentasche steckte. Er griff in seine Jacke und legte die Blätter auf den Flügel.

Quantz nickte Bach kurz zu, und sie fingen an zu spielen. Der erste Satz war ein Largo mit hingetupften Cembaloakkorden unter ineinander verflochtenen melodischen Ranken, bei denen der Komponist der Solovioline, also Graun, den Vortritt ließ. Die Flöte setzte zwei Takte später ein.

Während sich Quantz bemühte, die weiten und – wie er gestehen musste – äußerst phantasievollen Melodiebögen richtig wiederzugeben, kam ihm in den Sinn, dass sich Johann Sebastian Bach mit diesem Beginn für die Solovioline einen Affront geleistet hatte. Wenn es nicht gerade um Konzerte ging, in denen das Orchester mit seinem Vorspiel dem König eine Bühne schuf, hätte man eigentlich mit der Flötenstimme beginnen müssen.

War das der Grund, warum Seine Majestät das Werk, obwohl es ihm gewidmet war, nicht angenommen hatte? Vielleicht. Aber es war sicher eine Sache der Musikanschauung. Der kontrapunktische Stil behagte Friedrich nicht. Aus dem Stegreif an besagtem Kammermusikabend eine Fuge zu improvisieren, wäre eine kleine Sensation gewesen, die einen ansonsten unterhaltsamen Abend etwas aufgewertet hätte. Was der Komponist in seiner Schreibstube daraus machte, interessierte den Monarchen nicht mehr.

Quantz musste sich konzentrieren, um den verschlungenen Wegen, die seine Flötenstimme durch die Sonate nahm, folgen zu können. Das hier war etwas vollkommen anderes als seine Konzerte, die auf den reinen vordergründigen Effekt hin geschrieben wurden. Für Bach war ein musikalisches Thema nicht einfach eine schöne Melodie, die man immer wieder im Laufe des Werkes aufscheinen ließ, sondern etwas, über das man mit musikalischen Mitteln diskutierte. Jede Gegenstimme, die Bach hinzusetzte, war ein geistreicher Kommentar, jede Phrase war Teil eines gelehrten Gesprächs. Dabei kamen aber auch die Emotionen nicht zu kurz – vor allem nicht im tänzerischen Finale im Rhythmus einer Gigue, einem Stück voller eleganter Fröhlichkeit.