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Schließlich fanden die Musiker im letzten Akkord zusammen.

Prinzessin Amalia applaudierte mit ihren behandschuhten Händen, und sofort stimmten die anderen Zuhörer im Saal mit ein.

»Was können wir nun aus dieser Sonate lernen?«, fragte sie in die Runde wie ein Lehrmeister – ebenfalls eine Rolle, die Quantz für eine Frau eher untypisch fand. Aber Amalia war ja auch eine untypische Persönlichkeit.

Mizler stand auf und trat nach vorn, direkt neben den Flügel. »Ich bin sicher, dass die Anwesenden das königliche Thema noch im Ohr haben. Und somit haben Sie auch bestimmt erkannt, dass dieses Thema im Laufe der Sonate sehr geschickt eingeflochten ist. Damit Sie das auch wirklich erfassen … Herr Bach, darf ich Sie bitten, das Thema noch einmal vorzutragen, damit wir es uns vergegenwärtigen. Dann werden wir das Stück erneut hören, und ich bitte Sie, dabei genau auf das Motiv zu achten.«

Mizler wandte sich zu Bach, da bemerkte er die Noten, die Quantz auf das Cembalo gelegt hatte. »Was ist das?« Er griff danach und schlug ohne Umschweife die Blätter auf.

»Es stammt von Herrn Quantz«, sagte Bach.

Die Prinzessin stand auf und kam heran, wobei der Stoff ihres ausladenden Kleides raschelte. »Haben Sie uns ebenfalls eine gelehrte Notenarbeit mitgebracht, Herr Kammermusikus?«, sagte sie. »Ich muss sagen, Sie überraschen mich immer wieder.«

»Es ist nichts«, sagte Quantz, »nur ein paar Notizen, die ich schon länger mit mir herumtrage und die mich beim Musizieren behindert hätten. Geben Sie sie mir bitte zurück.«

Doch Mizler machte nicht die geringsten Anstalten, ihm Andreas’ Notenblätter herüberzureichen.

»Es sieht wie etwas Theoretisches aus«, sagte die Prinzessin. »Wie eine Tabelle.«

»Lauter einzelne Noten«, stellte Mizler fest, der den Blick nicht von den Notenblättern nahm. »Aufgelistet. Ist das die Analyse eines Musikwerkes? Am Ende die Analyse eines Werkes von unserem verehrten Meister Bach?«

Was sollte Quantz sagen? Wenn er zugab, dass sie nicht von ihm stammten, würde man ihn fragen, wer sie geschrieben hatte. Und die Wahrheit konnte er nicht enthüllen. Nicht, bevor er wusste, was mit Andreas geschehen war.

»Ich bitte darum, weitermusizieren zu dürfen«, sagte Quantz. »Und ich hätte gern das Manuskript zurück. Wie Sie wissen und wie bereits gesagt wurde, muss ich sehr viel für den König komponieren. Ich trage stets Blätter mit Einfällen mit mir herum.«

»Nicht so förmlich, lieber Herr Quantz«, sagte die Prinzessin. »Wir sind hier nicht am Hofstaat. Wie in einer Fuge die eine Stimme ohne die andere nicht bestehen kann, aber trotzdem für sich gesehen eine wunderbare Melodie ergibt, so ist auch unsere Gruppe der musikalischen Wissenschaftler hier aufgebaut. Vor dem Gegenstande unserer Betrachtung sind wir gleich – ob Bürger, Adliger oder Prinzessin. Es zählt, was im Kopf steckt. Und es gibt auch kein festgelegtes Programm außer der Beschäftigung mit dem, was uns lieb und teuer ist – der Musik.«

»Und dieses hier ist der Betrachtung wert«, sagte Mizler.

Bach war aufgestanden, Graun hatte die Geige auf den Flügel gelegt. Einige Gäste aus dem Publikum kamen nach vorn. Mizler blätterte immer noch, und es kam Quantz vor, als nehme er die Noten viel genauer ins Visier, als Quantz selbst es jemals getan hatte.

»Sie wollen uns ein Rätsel stellen, Herr Quantz, habe ich recht?«, sagte Mizler schließlich.

»Aber nein, wie gesagt –«

»Nach kompositorischen Notizen sieht mir das jedenfalls nicht aus. Eher, als hätten Sie aus einem bestehenden Musikstück alle Noten in einer anderen Reihenfolge herausgeschrieben und dazwischen Taktstriche gesetzt. Als hätten Sie«, sagte Mizler, »die Noten nach einem anderen Prinzip als dem musikalischen geordnet und ihnen damit einen neuen Sinn untergeschoben. Habe ich recht? Oder handelt es sich um ein System? Ein System, nach dem Sie komponieren?«

»Also gut.« Andreas hatte sich sicher nicht so tiefgründige Gedanken gemacht, als er die Noten aufgeschrieben hatte. Aber Quantz gefiel die Idee, dass darin ein Rätsel verborgen sein könnte. Sollten sie es glauben. »Es ist ein Rätsel. Lösen Sie es und Sie haben gewonnen. Ich werde es Ihnen aber nicht verraten.« Weil es nichts zu verraten gab. Weil es eben nur die Spielerei eines Verrückten war.

»Wir nehmen die Herausforderung an«, erklärte die Prinzessin. »Herr Quantz, ich muss sagen, Sie sind ein echter Gewinn für unsern Kreis. Wir werden derweil weiter Musik machen. Und Herr Mizler, werden Sie das Rätsel lösen können, bis die Musik zu Ende ist?« Sie wandte sich dem Gast aus Leipzig zu. »Glauben Sie, dass Sie das schaffen? Als guter Mathematicus?«

Mizler neigte nachdenklich den Kopf. »Ich habe da schon eine Theorie«, sagte er. »Spielen Sie ruhig die Sonate. Wenn die Musik verklungen ist, weiß ich, ob mein Verdacht richtig ist.«

»Ein sehr guter Vorschlag. Also meine Herren. Herr Bach, spielen Sie uns doch bitte noch einmal das königliche Thema vor, damit wir dessen Verarbeitung besser verfolgen können.« Die Prinzessin setzte sich wieder.

Der Cembalist gehorchte. Alle Anwesenden lauschten andächtig der in einem Molldreiklang aufstrebenden Melodielinie, die dann unvermittelt nach unten sprang, dann in einer erneut oben angesetzten chromatischen Abwärtsbewegung neue Kraft sammelte und sich schließlich in der Schlusswendung auflöste.

Sie begannen die Sonate erneut. Quantz machte sich wenig Gedanken darüber, wo welche Fetzen des Themas auftauchten. Er bewunderte allerdings eine Passage, wo es in großen Noten auf einmal inmitten komplizierter Verflechtungen im Bass erschien. Ansonsten war er vollauf damit beschäftigt, sich auf seinen Part zu konzentrieren, denn das Stück war nicht leicht. Der Komponist folgte unbarmherzig den Erfordernissen der musikalischen Logik und nahm wenig Rücksicht auf Grifftechnik. Ob die zu spielende Musik angenehm oder unangenehm in der Hand lag, darauf schien der alte Bach keinen Gedanken verschwendet zu haben.

Wenn Quantz komponierte, achtete er stets darauf, ob sich sein Solist – der ja immer der König war – auch glanzvoll darstellen konnte und ob der eine oder andere Griff nicht zu schwer war. Auch verbrachte Quantz viel Zeit mit Überlegungen, wie man mit leicht zu spielender Musik einen Effekt erzielen konnte, sodass die Anwesenden den Eindruck hatten, der Flötenpart sei schwer.

Vor dem letzten Satz blickte Quantz zu Mizler hinüber, der sich in den hinteren Bereich des Saales zurückgezogen hatte und stirnrunzelnd Andreas’ Noten durchging. Er schien vollkommen darin versunken zu sein. Als sie die Sonate beendeten, konnte Quantz nicht verhehlen, dass er gespannt war, ob und, wenn ja, was der Leipziger herausgefunden hatte.

Quantz setzte die Flöte ab. Er hatte das Werk auch beim zweiten Mal ohne Patzer gemeistert. Keine schlechte Leistung.

»Herr Quantz, ich wusste nicht, dass mein Bruder einen so versierten Primavistaspieler beschäftigt. Bravo. Wir alle wissen, dass Ihr Part sehr schwer ist.« Die Prinzessin sah sich suchend um. »Und nun bin ich gespannt, ob Herr Mizler Ihr Rätsel gelöst hat und wir noch ein weiteres Ergebnis Ihres Besuches heute Abend genießen können.«

Mizler kam nach vorn, die Noten in der Hand. »Herr Quantz hat uns etwas ganz Besonderes vorenthalten«, sagte er und lächelte. Seine Augen blitzten.

»So haben Sie eine Lösung gefunden?«, fragte die Prinzessin.

»Ich habe in den Noten etwas entdeckt, das wirklich erstaunlich ist. Allerdings könnte man darin sicher noch viel mehr entdecken. Wenn man sich mehr Zeit nähme, dann –«

»Sie machen es spannend, Herr Mizler.« Amalia sah zu Quantz hinüber, der sich redlich bemühte, eine unbeteiligte Miene aufzusetzen.