»Nun, einfach gesagt: Wenn man nach einem bestimmten System einzelne Noten aus den Tabellen herausschreibt, ergeben sich wie von selbst kleine Musikstücke.«
Die Prinzessin runzelte die Stirn. »Das verstehe ich nicht. Da stehen so viele Noten – ist es nicht natürlich, dass sie einen musikalischen Sinn ergeben, wenn man sie neu ordnet?«
»Das ist richtig, Eure Königliche Hoheit. Aber diese Notierungen sind viel anspruchsvoller. Ich habe die Reihen durchgezählt. Immer im Abstand von neun Tönen, also nach einer kompletten Tonleiter, passen die jeweiligen Noten zu den entsprechenden der anderen Tabelle. Und wenn man sie nacheinander hinschreibt, ergibt sich automatisch ein mehrstimmiger Satz. Das ist phantastisch.«
»Soll das heißen, es ist eine Kompositionsmethode?«, fragte die Prinzessin und lehnte sich zurück.
»Viel besser, Eure Königliche Hoheit. Es ist eine Kompositionsmaschine. Man muss nichts von Musik verstehen, um sie zu bedienen. Und man kann damit die schönsten Fugen schreiben.«
Stille kehrte im Saal ein. Man konnte das Erstaunen, das sich ausbreitete, fast mit Händen greifen. Quantz’ Blick traf den des Grafen Keyserlingk. Als sie sich ansahen, nickte der Graf fast unmerklich.
»Ich habe rasch den Versuch einer Komposition gemacht«, fuhr Mizler fort. »Man nimmt eine beliebige Zahl, die man sogar erwürfeln kann. Dann zählt man die Noten ab und schreibt sie auf. Sehen Sie, oder vielmehr – hören Sie.« Er schob Bach vom Cembalo weg und legte einen Zettel mit hastig hingeschriebenen Noten hin. »Hier, das habe ich allein in den letzten Minuten mit der Kompositionsmaschine geschaffen.«
Er begann zu spielen. Es war ein recht gut ausgearbeiteter zweistimmiger Satz. Als er zu Ende war, applaudierte niemand. Stille des Staunens lag über dem Saal. Sie schien Quantz zu erdrücken.
»Herr Quantz«, sagte die Prinzessin. »Wer hätte das von Ihnen erwartet? Wenn man Ihre Konzerte kennt … Sie machen sich wenig Mühe, ihnen kontrapunktische Tiefe zu geben. Allerdings …« Sie neigte den Kopf mit dem Dreispitz zur Seite. »Sie wollten ein Spiel mit uns spielen, oder nicht? Sie stehen im Dienst meines Bruders. Und ihm liegt nicht viel an theoretischen musikalischen Experimenten, das weiß ich wohl. Ich weiß auch, dass es zwischen Ihnen und dem König gerade nicht zum Besten steht. Ich muss aber zugeben, ich würde mich glücklich schätzen, wenn ich Sie als Musikus an meinem Hof hätte. Doch das würde mir der König nie verzeihen. Sie bringen mich in eine Klemme, Herr Kammermusikus.«
Quantz senkte nur das Haupt. »Ich danke Ihnen, Königliche Hoheit«, sagte er.
»Für heute ist es spät geworden«, sagte Amalia. »Lassen Sie uns bald eine neue Zusammenkunft einberufen. Dann wird Herr Quantz uns sein System des Kontrapunkts erklären.«
Ob sie sich tatsächlich an den König wenden würde? Mit der Bitte, ihn sozusagen freizukaufen? So etwas kam in den Kreisen der Hofmusiker immer wieder vor. Er selbst war auf diese Weise vom Dienst in Sachsen nach Preußen gekommen.
Quantz zog die vier Teile der Flöte auseinander, reinigte sie und brachte sie wieder behutsam in dem Kästchen unter.
»Danke, dass ich auf Ihrem Instrument musizieren durfte, Königliche Hoheit«, sagte er, als er es der Prinzessin reichte. Ein Lakai nahm das Kästchen entgegen.
»Bringen Sie das nächste Mal gern Ihre eigene Flöte mit.«
»Selbstverständlich … Eure Königliche Hoheit, ich hätte eine Frage. Wie erfahren die Musiker von den Zusammenkünften?«
»Ich beauftrage jemanden, der die Einladungen verteilt. Mir ist daran gelegen, dass mein Bruder nichts von diesen Zusammenkünften erfährt. Für ihn sind das alles kostspielige Phantastereien.«
Quantz verbeugte sich. »Ich werde selbstverständlich Stillschweigen bewahren, Eure Königliche Hoheit.«
»Ich wusste, dass Sie mich nicht enttäuschen.« Sie lächelte ihn an, verharrte einen Moment und ging.
Er nahm Andreas’ Noten entgegen, die Mizler ihm mit einem bewundernden Blick reichte.
Am Ausgang hielt Bach ihn auf. »Nehmen Sie sich in Acht, Herr Kammermusiker«, raunte er Quantz ins Ohr.
»Wie meinen Sie das?«
»Diese Noten sind nicht von Ihrer Handschrift. Das kann jeder sehen, der Ihre Werke kennt. Ich frage mich, ob Sie wirklich der Autor dieses musikalischen Meisterstücks sind. Es passt gar nicht zu Ihnen. Da hat die Prinzessin ganz recht.« Bach erwartete gar keine Antwort, sondern wandte sich Graun zu, der ihnen nachgekommen war.
Quantz schritt nachdenklich die Treppe hinab. Ihm kam in den Sinn, was La Mettrie über Andreas gesagt hatte: Er hatte dessen besondere Talente erwähnt. Dass sie so außergewöhnlich waren, hatte Quantz kaum ahnen können.
Auf dem Vorplatz angekommen, fragte er sich, ob er um diese Zeit noch eine Kutsche fand. Er hatte sich gerade entschlossen, zu Fuß nach Hause zu gehen, da hielt neben ihm ein Coupé. Der Seitenschlag öffnete sich, und da saß Graf Keyserlingk.
»Herr Quantz«, sagte er. »Wer solche Meisterstücke im Kontrapunkt vollbringt, sollte nicht durch die Stadt laufen müssen. Steigen Sie ein, ich nehme Sie ein Stück mit.«
***
Andreas rieb sich die Augen. Die Notenlinien auf dem Papier vor ihm waren immer noch leer.
Er hob den Kopf und blickte auf, als Schritte von draußen die Stille durchbrachen. Zwei, drei Atemzüge später betrat der Mann mit der schwarzen Perücke den Raum. Er hielt einen Kerzenleuchter mit drei Armen in der Hand, dabei war es in dem Raum, den man Andreas zugewiesen hatte, bereits sehr hell. So viele Kerzen hatte er bisher nur in der direkten Umgebung des Königs gesehen. Kerzen waren teuer. Angesichts der kostbaren Möbel, der Größe des Raumes und nun auch noch der verschwenderischen Beleuchtung mit Dutzenden von Kerzen konnte es keinen Zweifel mehr am Reichtum seines Gastgebers geben.
Der Mann blickte auf das Blatt, das vor Andreas lag, nahm es, schob es zur Seite, nahm das nächste. Immer erregter blätterte er die leeren Bögen durch.
»Nichts«, rief er aufgebracht. »So viel Zeit ist vergangen, und du hast nichts geschrieben.«
Er trat einen Schritt zurück. Er ballte die Faust, und ihm war anzumerken, dass er sich beherrschen musste, um Andreas nicht zu schlagen.
Andreas hatte sicherheitshalber die Hände gehoben. Doch der Mann stand nur da, zitterte und warf ihm einen zornigen Blick zu. Kurz darauf hatte er sich wieder gefasst.
Andreas hatte längst bemerkt, dass man ihn hier nur deshalb so gut behandelte, weil er wertvoll für diese Leute war. Folglich würde man ihn nur so lange in Ruhe lassen, bis er seinen Dienst versehen und alles aufgeschrieben hatte, was diese Leute von ihm wollten.
Danach war er nutzlos. Man würde ihn sicher schlechter behandeln. Vielleicht sogar töten.
»Ich habe dir genau erklärt, was wir brauchen«, sagte der Mann. »Liegt es daran, dass du dich nicht wohlfühlst? Kannst du in dieser Umgebung nicht nachdenken?«
Andreas war in der Zwickmühle. Wenn er den Auftrag ausführte, würde man ihn sicher töten. Wenn er den Auftrag nicht ausführte, würde der Mann irgendwann die Geduld verlieren. Und ihn ebenfalls töten.
Er musste dem Mann verdeutlichen, wie sinnlos und überflüssig das ganze Unternehmen war. Dass Andreas sich etwas Neues überlegen musste und dass er dafür Zeit brauchte. Diese Zeit mussten sie ihm geben, ohne ungeduldig zu werden und ohne ihn zu quälen. Vielleicht konnte er dann sehr lange Zeit in dieser angenehmen Umgebung verbringen. Er musste es nur geschickt anstellen.
Langsam schüttelte er den Kopf.
»Was soll das?«, rief der Mann aus. »Heißt das nein? Aber was meinst du damit?«
Andreas ließ die Hände, die Handflächen nach unten gewandt, über dem Papier schweben und bewegte sie hin und her.
»Was willst du mir sagen? Ich verstehe dich nicht.«
Andreas hob die Schultern.
»Du kannst es nicht?«
Wieder schüttelte Andreas den Kopf.