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Im Zentrum des Schlosses, das nur über ein einziges, ebenerdiges Stockwerk verfügte, lag der ovale Marmorsaal, von dem links und rechts je eine aneinandergereihte Flucht von Zimmern abging. Der eine Flügel beherbergte die Gemächer des Königs, in dem anderen lagen die Gästezimmer für Besucher, von denen man jedoch bisher kaum welche gesehen hatte. Es hieß, Friedrich wolle bald Gelehrte vor allem aus Frankreich um sich scharen, die dann in diesen Räumen wohnen würden. Einige von ihnen bestimmten bereits das geistige Leben Preußens. Der Mathematiker und Geograph Pierre Louis Moreau de Maupertuis zum Beispiel, der seit zwei Jahren Präsident der Berliner Akademie war. Vor Kurzem hatte de Maupertuis den befreundeten Philosophen La Mettrie ins Land geholt – auf Wunsch Seiner Majestät persönlich. Eines Tages sollte sogar der ebenso berühmte wie verrufene Voltaire nach Potsdam kommen. Bis jetzt schlug der Franzose die Einladungen des Königs jedoch immer wieder aus.

So klein das Schloss war, so gelungen fügte es sich in seine Umgebung ein. Jeder der Räume besaß hohe Fenstertüren, die auf die weite Terrasse hinausgingen. Von dort gelangte man über breite Stufen den Hang hinunter in den großen Park. Auch wenn man im Schloss musizierte, war es, als befinde man sich in einem Paradies, denn das Grün, die blühenden Bäume, der Himmel – alles brach sich in riesigen Spiegeln. Auf diese Weise hielt jetzt, im Mai, der Frühling selbst Einzug im Schloss.

Zunächst jedoch versammelten sich die Musiker im Vorraum, dem Vestibül. Dann öffneten Lakaien die Türen, und man ließ sie in den Marmorsaal vor. Im hellen Licht des Deckenfensters in der Kuppel konnten Graun, Benda, Mara und Engke auf bereitstehenden Tischen ihre Instrumentenkoffer ablegen. Das Auspacken inmitten der Marmorverzierungen und vor den stillen weißen Statuen in den Nischen ging schweigend und konzentriert vonstatten.

Sie hatten keine Zeit zu verlieren. Das Privatkonzert war Teil des exakt geregelten Tagesablaufs Seiner Majestät, der nur wenige Stunden nach Mitternacht begann und mit Schreibtischarbeit, Konferenzen mit den Ministersekretären, mit Speisen, Ausreiten, Parade, Lesen, immer wieder strenger Arbeit über den Dekreten, Erlassen, Akten und Korrespondenzen und schließlich dem Konzert vor dem Abendessen angefüllt war.

Sehr selten waren bei der Musik andere Personen anwesend als der König und seine Musiker. Friedrich wollte mit seinem Können auf der Flöte nicht beeindrucken. Es war eine Passion, die er privat pflegte. Allerdings gab er bei Empfängen in Berlin gelegentlich Kostproben seiner Kunst, jedoch nur im Kreise seiner Verwandten – seiner Geschwister und seiner Mutter, die im Schloss Monbijou lebte.

Benda, Graun, Mara und Engke standen mit ihren Instrumenten bereit. Auf Bach wartete das wertvolle Klavier von Silbermann.

Von jenseits der Flügeltür ertönte eine hohe, strenge Männerstimme: »Lasst die Musikanten herein.«

Sofort zogen Lakaien die Flügel auf. Quantz hatte den Vortritt. Gefolgt von den anderen, schritt er durch das schmale Audienzzimmer in den Konzertraum. Dort empfing sie der König. Er stand am Notenpult, die Flöte in der Hand.

Friedrich war sechsunddreißig Jahre alt, wirkte aber wie ein deutlich betagterer General, der jeden Moment ins Feld ziehen wollte. Er trug Reitstiefel zum blauen Uniformrock mit rotem Kragen und Hut. In den acht silberfarbenen Zacken des sternförmigen Adlerordens an seiner Brust spiegelte sich das Licht, das von den geöffneten Fenstertüren hereinfiel. Seit den Schlesischen Kriegen pflegte sich der Monarch stets militärisch zu kleiden.

Kaum waren sie alle sechs im Saal, erfolgte die gemeinsame Verbeugung, auf die Seine Majestät wie so oft ungeduldig reagierte. »Lassen Sie uns beginnen, meine Herren.« Er nickte Quantz kurz zu, der ihm einen vorbereiteten Stapel mit den Solostimmen auf das prachtvoll mit Intarsien verzierte Pult legte.

Graun, Benda und Engke standen bereit, Bach saß am Klavier, Mara neben ihm.

»Was haben Sie mitgebracht, lieber Quantz?«

»Ein neues Konzert, Majestät.«

Der König überflog die Noten. »Oh, und Sie möchten, dass wir es probieren?«

»Es wäre eine Freude, Majestät.«

Allen Beteiligten war klar, dass diese Unterhaltung nur ein Spiel war, so etwas wie inszenierte Höflichkeiten. Selbstverständlich besaß Quantz nicht die Macht, sich zu wünschen, was der König spielen sollte. Es wurde befohlen. Doch indem Friedrich nach der Meinung seines Untergebenen fragte, entstand der Schein eines kollegialen Miteinanders.

»Ich hoffe, Sie haben es so gesetzt, dass ich mich nicht blamiere? Es wäre zu schade – gerade vor dieser erlesenen Schar von Meistern der Tonkunst. Was glauben Sie?«

»Das werden Sie auf keinen Fall, Eure Majestät«, erwiderte Quantz, wie es von ihm verlangt wurde.

»So ist es eher zu leicht für mich? Das wäre nun auch nicht in meinem Sinne.« Friedrich, der deutlich kleiner als Quantz war, sah stirnrunzelnd zu ihm hinauf. »Nur wer kämpft, kann besser werden. Haben Sie das nicht stets gesagt, als Sie mich mit Ihren Etüden quälten?«

Quantz schwieg. Es waren nur rhetorische Fragen, wie der König sie liebte. Er erwartete keine Antworten.

»Aber was hilft alles Theoretisieren? Probieren geht doch immer noch über Studieren, nicht wahr, meine Herren? Beginnen wir.«

Sie stimmten sich kurz ein. Der König prüfte mit ein paar Tönen seine Flöte. Quantz begab sich auf seinen Platz neben dem Kamin. Hier hatte er stehend das Spiel Seiner Majestät zu verfolgen und – natürlich wohlwollend – zu beurteilen. Nur ihm allein war das erlaubt.

Friedrich spielte das Konzert nicht schlecht, wenn man bedachte, dass er es prima vista vorgesetzt bekommen, die Noten also nie zuvor gesehen hatte. Quantz hatte natürlich vorgesorgt. Im Solopart hatte er in dem freien Passagenwerk eine Fülle an Tonkombinationen verwendet, die der König seit Jahren besonders fleißig übte und die ihm daher gut in den Fingern lagen. Trotzdem fehlte ihm die Brillanz, über die Quantz selbst verfügte. Der langsame Satz lag ihm am meisten, doch als es ans Finale kam, leistete sich Seine Majestät einen schweren Patzer. Mitten im zweiten Solo musste er abbrechen. Die Musiker reagierten sofort und nahmen die Hände von den Instrumenten.

In die eintretende Stille hinein sagte Friedrich: »Noch einmal. Den letzten Satz.« Diesmal meisterte er alle Passagen. Als der letzte Ton verklungen war, applaudierte Quantz verhalten.

»Das werde ich noch ein wenig öfter exerzieren müssen, bis ich es wirklich beherrsche«, gab Friedrich zu. »Ich werde mich in meinen Mußestunden darum kümmern.«

Er sichtete die anderen bereitliegenden Noten – Stücke, die Wochen oder Monate alt waren. Quantz hatte auch des Königs eigenes C-Dur-Konzert bereitgelegt, das in fast allen Kammerkonzerten aufgeführt wurde, denn Seine Majestät war sehr stolz darauf. Offenbar hatte er vergessen, dass Quantz ihm damals beim Komponieren – mehr als ein Jahr war es her – kräftig unter die Arme gegriffen hatte.

Die Spannung, wie Friedrich das neue Werk aufnehmen würde, war verflogen. Nun konnte sich Quantz voll und ganz der Kunst seiner Musiker hingeben, die nun mit dem nächsten Stück begannen. Ja, sie alle waren seine Musiker – auch der König selbst.

Er hätte es nie ausgesprochen, dies niemals öffentlich für sich beansprucht, aber er hatte den König, zumindest was dessen musikalische Seite betraf, gemacht. Und wenn der König in seinen einsamen Stunden an der Flöte die Kraft sammelte, die ihn befähigte, Kriege gegen seine Feinde zu gewinnen und den Ruhm und das Ansehen Preußens zu mehren – wer hatte dann genauso viel Anteil daran wie seine Generäle, Offiziere, Diplomaten und Spione? Er – Johann Joachim Quantz.

Hinter den Fenstern der Flügeltür sank die Sonne. Ihre letzten Strahlen brachen sich in den Verzierungen des Raumes, den der König selbst sein Konzertzimmer nannte. Das Licht schien von der Decke aus die Wände herabzurinnen wie flüssiges Gold. Es nahm seinen Beginn an der Stelle, wo der mächtige Kronleuchter aus Bergkristall befestigt war. Dort lag das Zentrum eines riesigen goldenen Spinnennetzes, das sich über die Wölbung spannte – eine originelle Dekoration, in der sogar die kleinen Achtfüßler selbst nicht fehlten. Aus dem Netz wuchsen weiter unten zu allen Seiten hin Ranken, Weinblätter mit Früchten, Gartenlauben, aus denen dann wieder die Umrandungen der Spiegel und der Gemälde wurden. Eine ganze Welt – entsprungen aus der Falle eines räuberischen Insekts …