»Ich kann Ihnen keine Beweise liefern, aber ich habe eine Idee. Sie besteht darin, dass Musik doch auch Botschaften enthält, oder nicht? Nehmen wir die Musik von Johann Sebastian Bach. An einigen Stellen in seinen Werken hat er seinen eigenen Namen in die Musik verflochten – die Noten B, A, C und H. Meine Idee hat nun mit einer diplomatischen Gepflogenheit zu tun. Sie wissen, dass Seine Majestät die Botschaften, die er von seinen Vertrauten erhält, chiffrieren lässt?«
»Tut das nicht jeder Monarch? Ist das nicht auch in Russland üblich? Sie werden die Berichte, die Sie über den König erhalten, auch chiffriert nach Petersburg schicken.«
Worauf wollte der Graf nur hinaus?
»Falls ich überhaupt etwas erhalte. Seine Majestät verbietet den Gesandten anderer Mächte bekanntlich, Potsdam zu betreten. Umso mehr wurmt es ihn, wenn es jemandem gelingt, Soldaten – noch dazu aus seiner Leibgarde – zur Flucht zu verhelfen. Womit wir beim nächsten Thema wären. Wer sollte ein Interesse daran haben, dem König solche Nadelstiche zu versetzen? Ich meine die Desertion der Soldaten, deren Ablauf völlig ungeklärt ist –«
»Bitte, mein Herr, erklären Sie sich besser«, sagte Quantz. Was war das hier? Der Versuch, Quantz zum Mitglied einer Gruppe von Verrätern zu machen?
»Was wissen Sie?«
»Ich weiß nichts, lieber Herr Quantz. Ich konstruiere nur wie der alte Bach. Die Dinge müssen in Übereinstimmung gebracht werden, damit sie einen Sinn ergeben. Die Theorie, dass jemand Ihren Posten will, können Sie wohl vernachlässigen. Dann hätte man anstelle des armen Lakaien gleich Sie selbst umgebracht, anstatt Sie langwierig zu diskreditieren. Ich glaube, Ihr bedauerliches Schicksal ist nur der Nebeneffekt eines größeren Plans. Denken Sie darüber nach, Herr Quantz.«
Die Kutsche wurde langsamer. Sie näherten sich der Wohnung von Quantz’ Frau.
»Ich habe keine Beweise dafür, dass Musik benutzt wird, um verschlüsselte Botschaften aus Potsdam herauszuschaffen«, sagte Keyserlingk. »Es ist nur ein Gedanke. Aber ein Gedanke, der fasziniert, oder nicht?«
Quantz nickte. Sicher war das faszinierend, aber es waren nur wilde Spekulationen.
»Durchaus. Und worin besteht nun Ihre Warnung an mich?«
Die Kutsche hielt. Der Graf senkte seine Stimme. Was sie hier besprachen, war für die Ohren von niemand anders bestimmt, das war Quantz klar. Auch nicht für die des Kutschers. »Wenn ich richtig liege, dann sollten Sie wissen, dass Sie es mit Staatsfeinden zu tun haben. Vielleicht sogar mit allerhöchsten.«
»Staatsfeinden? Aber wer soll das sein?«
»Sie glauben vielleicht, lieber Herr Quantz, dass jetzt mit dem neuen Schloss ›Sanssouci‹ eine neue Epoche des Friedens begonnen hat. Denn tatsächlich sieht es auch danach aus. Der König verwirklicht allenthalben seine Bauvorhaben. Er umgibt sich mit Geistern der Philosophie und der Wissenschaft. Aber glauben Sie wirklich, dass die Feinde, denen er in den beiden schweren Kriegen Schlesien abgerungen hat, diesen Verlust hinnehmen werden? Ich vertrete selbst eine Macht, die unter Umständen zu Friedrichs Feind werden kann, und deshalb werde ich dieses Gespräch nun beenden. Aber bedenken Sie, dass Sie in einem Spiel mitspielen, das weit größere Aufgaben stellt als die Herausforderung, bis zum nächsten Tag ein neues Flötenkonzert zu schreiben.«
In diesem Moment kam wie auf Kommando ein Diener, der neben dem Kutscher auf dem Bock gesessen hatte, zur Tür und öffnete den Schlag auf Quantz’ Seite.
»Einen guten Abend noch, Herr Kammermusikus«, sagte der Graf. »Danke, dass Sie mich begleitet haben. Vielleicht haben Sie Lust, einmal bei mir zu musizieren? Oder Sie komponieren einmal ein Stück für Herrn Goldberg und Sie selbst? Der König muss es ja nicht erfahren.«
In seiner kleinen Schlafstube übermannte Quantz die Müdigkeit. Doch gleichzeitig ließen ihm die Ideen, die Keyserlingk vor ihm ausgebreitet hatte, keine Ruhe. Schließlich konzentrierte er sich auf das Faktum, dass eine raffinierte Technik der Verschlüsselung die geheime Korrespondenz des Königs schützte. Und die – zugegebenermaßen interessante – Frage war wirklich, ob man eine solche Verschlüsselung mit Musik vornehmen konnte. Je länger Quantz darüber nachdachte, desto einleuchtender erschien ihm der Gedanke. Niemand würde ja in Noten nach einem versteckten Sinn suchen, weil niemand ahnte, dass sie einen solchen Sinn überhaupt enthielten. Bei einer unsinnigen Schrift, etwa bei einem Buchstabensalat wie bei den üblichen Verschlüsselungen, war sofort ersichtlich, dass ein geheimer Sinn dahinter lag und dass jemand versucht hatte, diesen zu verbergen.
Arbeitete der König wirklich mit musikalischen Verschlüsselungen? Und hatte Andreas, der kombinatorisch offensichtlich hochbegabt war, diese Verschlüsselungen entziffert? War dies der Dienst, für den man Andreas noch brauchte? Konnte es denn sein, dass sich hinter den Noten, die Andreas geschrieben hatte, auch noch ein anderer Sinn verbarg?
Quantz faltete die Tabellen auseinander, in denen Mizler so viel Faszinierendes entdeckt hatte, und betrachtete sie eine Weile. Dann läutete er nach Klara, ließ sich etwas Kaltes zu essen bringen, zündete noch mehr Kerzen an und begann einen Brief zu schreiben. Anton würde ihn gleich morgen zur Post bringen.
Er war an den einzigen Menschen gerichtet, der in der Lage war, die doppelte Bedeutung von Musik zu verstehen.
Sehr geehrter Herr Johann Sebastian Bach …
22
Als in der Dämmerung die Stadttore geöffnet wurden, war Quantz einer der Ersten, die Berlin in Richtung Potsdam verließen.
Im grauen Licht des Morgens studierte er Andreas’ Tabellen. Er hatte sich eigens einen Packen Notenpapier mit in die Fahrgastkabine genommen, und nun schrieb er, während er vorsichtig das Geruckel des Gefährts ausbalancierte, nach dem Zahlensystem zweistimmige kontrapunktische Sätze. Er komponierte sozusagen, doch ohne die geringste künstlerische Idee.
Es war tatsächlich eine Kompositionsmaschine.
In Andreas steckte eine ungeheure Begabung, die nicht nur musikalischer, sondern auch mathematischer Natur war. Hatte er Quantz nicht oft weitergeholfen, als er dessen Themen und Motive nach bestimmten Prinzipien verdrehte und die Noten einfach in anderer Kombination angeordnet und Quantz’ Phantasie damit auf die Sprünge geholfen hatte?
Als die Kutsche an Zehlendorf vorbeirumpelte, hatte er alle verfügbaren Notenblätter beschrieben. Einige der Melodien, die sich aus dem System ergeben hatten, würden ihm sicher bei seinen Kompositionen weiterhelfen. Wahrscheinlich boten sie sogar Stoff für viele weitere Konzerte.
Er lehnte sich in der Kutsche zurück und versank in der Betrachtung der vorbeiwandernden Landschaft. Schmetterlinge tänzelten über eine Wiese mit blühenden Apfelbäumen. Er dachte an den Traum, den er so gern träumte, der ihm aber – wahrscheinlich wegen der schlimmen Erlebnisse – in den letzten Tagen ferngeblieben war: der Traum von Arkadien. Von einem harmonischen, herrlichen Land – landschaftlich reizvoll mit kleinen Hainen, Wiesen und Bächen, mit fröhlichen Menschen und Musik, die den blauen Äther erfüllte. Mit weicher Flötenmusik. Tönen, nur aus Luft gemacht. Die perfekte Verschmelzung von Kunst und Natur.
So träumte Quantz vor sich hin, bis die Kutsche Potsdam erreichte. Über die Lange Brücke ging es am Schloss vorbei, dann durch die Gassen zum Kanal und über die Grüne Brücke.
Dort stieg Quantz aus und atmete tief durch. Er hatte einen Sieg errungen. Endlich konnte er dem König das bieten, was dieser von ihm verlangte. Quantz würde neue Konzerte komponieren, seine Musik würde an Glanz alles übertreffen, was er bisher geschrieben hatte. Er würde mehr Tiefe in seine Kompositionen legen. Andreas’ Kompositionsmaschine sei Dank.
Was mit dem Lakaien geschehen war, musste Weyhe herausfinden. Und Quantz, getragen von den guten Gedanken, hoffte, dass der mysteriöse Fall eine Lösung finden würde.