La Mettrie musste Weyhe sagen, dass es sich bei der Leiche, die Eller untersucht hatte, nicht um Andreas handelte. Das Wort eines Kammerherrn hatte Gewicht.
Der Verdacht der Spionage, die seltsame Idee von Graf Keyserlingk, hatte zwar während der Unterhaltung überzeugend geklungen, aber nun, im hellen Licht des Tages, verblasste sie wie eine vage Erinnerung. Was hatte denn Quantz mit dem Feind in Habsburg zu tun? Da war doch die Kompositionsmaschine etwas viel Wertvolleres. Etwas, mit dem man wirklich etwas anfangen konnte.
Wahrscheinlich war Andreas deshalb entführt worden. Weil er in der Lage war, solche Dinge zu erfinden. Und wenn die Habsburger dahintersteckten, brauchten sie vielleicht ein solches Genie, um ihre Hofmusik in Wien voranzubringen …
La Mettrie und er mussten zum König. Seine Majestät musste Weyhe hinzuziehen. Alles würde zur Sprache kommen. Er, Quantz, war unschuldig. Er würde die schönsten Konzerte der Welt schreiben, und es würden wieder herrliche, glänzende Kammerkonzerte im Schloss stattfinden.
Der Kutscher fuhr davon. Quantz hatte nur eine kleine Tasche dabei. Nicht nötig, dass er sich die hineintragen ließ.
Glanz, dachte Quantz. Glanz – Quantz.
Ein schöner Reim.
Und plötzlich regnete es Töne auf ihn herab, Motive begannen ihn zu umflattern wie Schmetterlinge. Die Melodien kamen zurück.
Welch eine Erleichterung. Welche Wonne, wenn die künstlerische Schaffenskraft wiederkehrte. Es war, als sei er neu geboren.
Er wollte klopfen, damit Sophie ihm öffnete, doch die Tür war nur angelehnt. Nanu? Quantz schritt in den Flur.
»Sophie?«, rief er.
Keine Antwort.
Weiter hinten, wo die Treppe links hinaufführte, stand die Tür in den kleinen Garten offen. Dort zog Sophie ein wenig Gemüse, doch nichts bewegte sich zwischen den Beeten. Dafür lagen mehrere Gegenstände auf dem Gehweg – gleich unter dem Fenster des Raumes, wo Quantz seine Flöten baute. Die Tür stand weit offen.
Er stellte die Tasche ab und betrat die Werkstatt. Als er auf die Drehbank zuging, traf sein Fuß auf etwas. Eine Kantel kollerte zur Seite. Auf dem Boden lagen die Flöten herum, an denen er gerade arbeitete. Eine war zersplittert. Seine Werkzeuge, die Räumer, lagen nicht an ihrem Platz. Quantz sah durch das offene Fenster hinaus in den Garten. Dort lagen sie, man hatte sie einfach hinausgeworfen.
Er eilte die Treppe hinauf. Auch hier waren die Eindringlinge gewesen. Auf dem Boden der Studierstube lagen Noten und Bücher wild verstreut, der Sessel war umgekippt. Das Stehpult stand noch an seinem Platz, aber alle Schubladen waren herausgezogen.
»Sophie«, rief Quantz. »Bist du da?« Er lauschte.
Nichts.
Quantz ging durch jeden Raum, jede Kammer.
Wer auch immer die Wohnung durchsucht hatte, er war überall gewesen, auch im Schlafzimmer, in der Küche. Quantz ging noch einmal die Treppe hinunter, inspizierte die nun verwaiste Unterkunft der Soldaten, kehrte dann nach oben zurück und setzte sich schließlich auf sein Bett. Im selben Moment öffnete sich leise knarrend die Schranktür, und Sophie wurde sichtbar. Sie kauerte im Schrank wie eine Puppe, die Augen geschlossen.
»Sie hat keine ernsthaften Verletzungen davongetragen«, sagte La Mettrie. »Jedenfalls keine körperlichen. Es war eine Art Schock. Aber gut, dass Sie mich gleich geholt haben. Sie sind in Berlin gewesen, sagen Sie?«
Sophie lag auf dem Bett. Ihr Gesicht war blass wie das einer Toten. Noch immer spürte Quantz den Schrecken, der ihn überwältigte, als er sie gefunden hatte. Ihm war sofort klar gewesen, dass Sophie ärztliche Hilfe brauchte. Nur wenige Sekunden hatte er überlegt, und dann war ihm in einem plötzlichen Zustand absoluter Klarheit eingefallen, dass ja im nahen Gasthof ein Leibarzt des Königs residierte. Der hoffentlich gerade nicht im Alkohol- oder Opiumrausch versunken und daher ansprechbar war.
Quantz war losgelaufen, hatte in der »Goldenen Krone« zwei Stufen der Treppe auf einmal genommen und an La Mettries Tür gehämmert. Der Kammerherr hatte, indigniert über die Störung, geöffnet und war dann sofort mitgekommen. Zum Glück war er nüchtern – und wenn berauscht, dann von den Gefilden der eigenen Phantasie, der er sich schreibend hingegeben hatte. Jedenfalls hatte Quantz das daraus geschlossen, dass La Mettrie gerade eine Feder in der von Tinte verschmierten Hand gehalten hatte.
»Sie braucht nichts als Ruhe«, sagte der Franzose. »Wenn sie zu sich kommt, sollte man ihr etwas Kräftigendes zu trinken geben.«
»Sie meinen … Ihr Wundermittel?«
»Das wäre das Beste. Es lässt den Körper ruhen, und in der Ruhe findet er selbst zu seiner Heilung. Der Mensch ist eine perfekte Maschine. Das haben Sie bestimmt schon einmal gehört.« Er lächelte verschmitzt.
»Durchaus. Aber so perfekt auch wieder nicht, wenn man all die Kranken und Siechen betrachtet und sie mit den Menschen vergleicht, die bis ins hohe Alter bei Kräften bleiben.«
»Wir unterscheiden uns eben, lieber Maître de Musique. Der Mensch ist ein Individuum, und jeder ist einmalig. So hegt ein jeder andere Wünsche, hat andere Bedürfnisse und mitunter ganz besondere Fähigkeiten. Womit wir wieder beim Thema wären. Jemand hat ganz offensichtlich Ihre Abwesenheit ausgenutzt. Die Frage ist nur, wer.«
Quantz seufzte. »Das ist doch gleichgültig. Irgendwelche Diebe. Eigentlich seltsam … Einbrüche geschehen in Potsdam selten, die Stadt ist viel zu gut bewacht. Welcher Räuber traut sich schon in die Häuser, wenn jeden Moment eine Patrouille vorbeikommen kann?«
La Mettrie nickte nachdenklich. »Ganz genau, Herr Quantz. Mit dieser Überlegung haben Sie ins Schwarze getroffen. Es geschieht selten. Praktisch nie. Die Soldaten bewachen die Stadt. Ein Räuber müsste die Soldaten auf seiner Seite haben, damit sie in der Stunde, in der er sich ein Haus vornimmt, nicht genau in dieser Straße patrouillieren.«
Quantz sah erschrocken auf. »Sie glauben, der Einbrecher hat mit den Soldaten gemeinsame Sache gemacht? Sie bestochen?«
»Sehen Sie denn die Zusammenhänge immer noch nicht? Hier ist jemand in der Lage, Soldaten zur Flucht zu verhelfen. Damit lässt sich doch schon einiges erreichen. Eine kleine Gefälligkeit sicherlich.«
»Gut, das mag sein. Und nun auch dieser Einbruch … Aber warum? Was soll das alles?«
»Versuchen wir einmal herauszubekommen, was das Bestreben der Einbrecher war.«
Quantz lachte gequält. »Was schon? Geld zu finden. Etwas Wertvolles.«
»Etwas Wertvolles, ja. Finden wir doch heraus, was das gewesen sein konnte. Schauen Sie bitte genau, was in Ihrem Hause fehlt.«
Quantz begann im Komponierzimmer. Er hob Noten und Bücher vom Boden auf, sortierte die losen Bögen der Partituren sorgfältig und legte sie zurück in die Schränke. Dann überprüfte er die Schubladen, sein Schreibzeug und alles andere, was sich in dem Raum befand.
»Gut, dass Sie eine strengere Ordnung halten als ich«, sagte La Mettrie, der ihm zusah. »In meinem Quartier wäre es schwieriger herauszufinden, ob jemand etwas gestohlen hat. Außer es handelt sich um Schriften, an denen ich gerade arbeite.« Er warf Quantz einen vielsagenden Blick zu. »Wo wir gerade davon sprechen … Sie waren es doch nicht, der in mein Zimmer eingedrungen ist, nehme ich an? Sie hatten Helfer. Oder besser: eine Helferin.«
»Ja«, brummte Quantz, »es war Sophie.«
»Das hätte ich ihr gar nicht zugetraut. Ich habe sie eher für eine unterwürfige Person gehalten, die sich an Regeln hält und höhergestellten Persönlichkeiten Respekt zollt. Also ein eher langweiliges Frauenzimmer.«
»Vielleicht ändert sich ja Ihre Meinung endgültig, wenn ich Ihnen sage, dass es ihre Idee war, in Ihr Quartier zu gehen und die Sachen zu holen.«
»Und das Opium? War das auch ihre Idee, es mitzunehmen?«
»Ich habe sie darum gebeten. Ich wollte es gern probieren. Ehrlich gesagt, war ich neidisch auf Sie. Ich hatte das Gefühl, die Droge sei eine Art Wundermittel, um die schöpferischen Kräfte zu wecken.«