»Ich habe etwas gesehen. Dort drüben.«
»Sie haben scharfe Augen, Monsieur. Mir ist einmal ein Licht aufgefallen, aber das war nachts. Ich habe selbst überlegt, ob ich beobachtet werde.«
»Ich werde Ihnen gleich ein zweites Mal beweisen, wie gut ich sehe.« Er lächelte Quantz triumphierend an.
»Was meinen Sie?«
»Unter der Fensterbank steckt etwas zwischen den Steinen. Außen. Hier oben. Andreas muss es dort hinterlassen haben. Es ist ein Zettel. Wir müssen ihn unauffällig nach drinnen holen. Unsere Gegner dürfen nicht bemerken, dass wir gefunden haben, wonach sie suchten.«
Sie hatten etwas gefunden? Bisher war das alles nur La Mettries Vermutung, nichts weiter.
»Woher wissen Sie das?«
»Ich habe den Zettel von unten gesehen. Und das ist Andreas’ Art, eine Nachricht zu hinterlassen, wenn derjenige, zu dem er möchte, nicht zu Hause ist. Aber wenn Sie das Fenster öffnen und etwas aus den Steinen unter dem Sims hervorziehen, wird man das von gegenüber sehen können. Und das müssen wir vermeiden.«
Quantz schielte zum Fenster. Am liebsten wäre er sofort hingegangen und hätte nachgesehen, ob La Mettrie recht hatte. Hinter den Ästen waren die dunklen Fenster des verlassenen Hauses zu erkennen. Er spürte von dort aus Blicke auf sich gerichtet. Doch zu sehen war nichts.
»Was können wir denn tun?«, fragte er La Mettrie.
»Sophie könnte uns helfen, doch sie schläft. Mal überlegen. Wenn Sie überwacht werden, wird man Ihnen folgen, wenn Sie das Haus verlassen. So könnte man sie fortlocken. Aber das nützt nichts, wenn dort drüben mehrere Personen sind.«
»Wir könnten warten, bis die Dunkelheit hereinbricht. Dann kann man uns nicht erkennen.«
»Das dauert zu lange. Es ist gerade erst kurz nach Mittag. Übrigens meldet sich mein Magen. Ihrer auch? Schon deshalb sollten wir langsam zu einem Ergebnis kommen. Bei einem Mittagessen können wir unseren Fund dann weiter begutachten.«
»Ich weiß eine Lösung«, sagte Quantz. Plötzlich war ihm eine aberwitzige Idee gekommen.
»Tatsächlich? Nehmen Sie es mir nicht krumm, aber das hätte ich Ihnen nicht zugetraut.«
»Wir müssen die Leute ablenken, sagten Sie, richtig? Und wir brauchen einen Grund, warum ich mich aus dem Fenster beuge. Auch richtig?«
»Beides korrekt.«
»Wir werden ihnen eine Komödie vorspielen. Ich bin zwar weniger Theaterkomponist, aber ein bisschen Talent für so etwas habe ich doch.«
La Mettrie klang enthusiastisch. »Quantz, das klingt wunderbar. Eine Komödie. Herrlich. Was haben Sie vor?«
***
»Ich frage mich, was die da drüben machen«, sagte der junge Kilian.
»Soviel ich weiß, sind diese gelehrten Leute immer damit beschäftigt, zu disputieren.«
»Und warum tun sie das?«
»Keine Ahnung. Eigentlich müssten sie doch so gelehrt sein, dass sie die Antworten auf die Fragen schon kennen, aber manchmal habe ich den Eindruck, sie trauen ihrer eigenen Gelehrtheit nicht. Und was ist die dann schon wert?«
Johannes nickte. »Jedenfalls habe ich dafür gesorgt, dass uns die Zeit heute nicht so sauer wird.« Er zog eine kleine Flasche aus der Tasche und öffnete sie. Sofort breitete sich in der kleinen Dachstube der Geruch von Weinbrand aus.
»Wo hast du die her?«
Der junge Kilian nahm einen Schluck. »Aus der Schlossküche. Man muss sich eben mit der Mamsell gut stellen.«
»Gib schon her.«
Michael trank ebenfalls und genoss das brennende Gefühl im Hals. Dann senkte er die Flasche. »Verdammt, was ist da los?«, knurrte er. Der Franzose stand vor dem Fenster im oberen Stockwerk des Hauses gegenüber und starrte herüber. Der alte Kilian hätte schwören können, dass der Kammerherr ihnen direkt ins Gesicht blickte. Er schien genau zu wissen, dass sie beide hier waren.
»Die Flasche«, rief Michael. »Er hat sie gesehen. Ein Widerschein oder so was …« Er wollte vom Fenster wegzucken, doch Johannes legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ganz ruhig. Er kann uns nicht sehen. Jedenfalls nicht, solange du dich nicht rührst und irgendetwas anderes aufblinkt oder sichtbar wird. Nicht bewegen.«
Der Kammerherr wandte sich wieder vom Fenster ab und redete weiter mit dem Kammermusikus. Die Unterhaltung schien weiterzugehen wie zuvor, doch dann geschah etwas Seltsames: Die beiden Männer verließen die Stube. Kurz darauf traten sie unten durch die Haustür auf die Straße und sahen sich um.
Der Franzose nahm eine der Linden in Augenschein, die an der Kante des Kanals wuchs und deren Krone bis hinauf zum ersten Stock von Quantz’ Haus reichte.
»Was will der jetzt machen?«, fragte Johannes. »Hinaufklettern?«
»Bei den Gelehrten muss man auf alles gefasst sein. Kann sein, dass er dem Musikmeister die Effekte der Schwerkraft vorführt.«
»Schwerkraft? Was ist das denn?«
»Ach, das verstehst du nicht. Es ist was Wissenschaftliches.«
»Wahrscheinlich irgendwas, das kein Mensch braucht.«
So schnell die beiden unten erschienen waren, so plötzlich entschieden sie sich, wieder ins Haus zu gehen. Diesmal dauerte es etwas länger, bis sie in Quantz’ Stube auftauchten.
Johannes nutzte die Gelegenheit und nahm noch einen Schluck aus der Flasche.
Die Unterhaltung ging weiter. Der Kammerherr setzte sich gar nicht erst, sondern lief im Raum herum. Quantz machte eine abwehrende Bewegung. La Mettrie reagierte mit erneutem Händeringen.
»Ich glaube, die geraten in Streit«, sagte Johannes.
Tatsächlich: In diesem Moment schlug Monsieur La Mettrie Quantz vor die Brust. Es sah lächerlich aus, denn der Franzose war viel kleiner als der Musiker. Trotzdem musste der Schlag ziemlich stark gewesen sein, denn Quantz kam ins Straucheln. Einen Moment schien er zu zögern, dann ballte er die Faust und versuchte zurückzuschlagen, doch der Kammerherr wich aus.
»Nennen die das disputieren?«, sagte Johannes. »Ich nenne das eine Schlägerei. Ich dachte, diese Leute seien besser mit Worten als mit Fäusten. Oder hat das wieder irgendwas mit dieser Schwerkraft zu tun?«
Die beiden Männer drüben waren im hinteren Bereich des Raumes verschwunden und nur noch schlecht zu erkennen. Für einen Moment sah es aus, als würde sich die Tür öffnen, denn ein dunkles Viereck erschien, durch das jemand hindurchschritt.
Kurz darauf ging die Haustür auf. La Mettrie, die Nase hoch erhoben, schritt die Stufen auf die Straße hinunter, stolzierte wie ein Hahn ein Stück vom Haus weg, drehte sich um und brüllte nach oben: »Ich wusste es, Monsieur! Sie sind nicht nur ein Kretin, sondern auch, was noch schlimmer ist, ein Verräter. Ich möchte mit Ihnen nichts mehr zu tun haben. Ich verlasse Ihr Haus im Bewusstsein eines reinen Gewissens.«
Oben am Fenster, wohin die Worte gerichtet waren, rührte sich nichts.
»Ich wusste, dass ich von Ihnen nichts anderes zu erwarten habe als Unverschämtheiten«, brüllte der Franzose weiter. »Mich sehen Sie nicht wieder, mein Herr. Ich breche hiermit jeden Umgang mit Ihnen ab.«
Passanten waren stehen geblieben und sahen La Mettrie bei seiner Schimpftirade zu.
»Dafür, dass er mit dem Herrn Musikmeister nichts mehr zu tun haben will, hält er sich aber lange vor seinem Haus auf«, sagte der alte Kilian.
Johannes nickte. »Die Franzosen haben Sinn für Theatralik. Vielleicht nicht ganz so viel wie die Italiener, aber für eine gute Vorstellung reicht’s.«
»Ich freue mich schon auf das Gesicht vom Rat Weyhe, wenn wir ihm den Vorfall schildern«, sagte Michael.
»Ist das denn wichtig?«
»Das muss der Rat entscheiden. Außerdem: Hast du nicht gehört, was der Herr dort gerufen hat? Er hält den Herrn Musikus für einen Verräter. Das ist doch verdächtig, oder?«
Jetzt tat sich oben am Fenster etwas. Quantz war herangekommen und öffnete es. Er hatte einen Eimer Wasser in der Hand.
»Das ist nicht wahr«, sagte der junge Kilian.