»Ich fürchte doch.«
Unten auf der Straße stand immer noch der schimpfende La Mettrie. Er schien den Wassereimer nicht zu sehen. Quantz drehte ihn, und der Inhalt, ein riesiger Wasserschwall, der sich auf dem Weg nach unten länglich verformte, klatschte La Mettrie auf den Kopf. Die Passanten brachen in Lachen aus. Der Franzose trampelte vor Wut auf der Stelle herum.
»Das haben Sie nicht umsonst getan«, schrie er nach oben und ließ ein ganzes Wörterbuch französischer Ausdrücke folgen. Sofort stapfte er wieder die Stufen hinauf und verschwand im Haus, wobei er eine nasse Spur hinterließ.
»Siehst du?«, sagte der ältere Kilian. »Ich wusste es.«
»Was wusstest du?« Johannes sah seinen Bruder erstaunt an.
»Das ist Schwerkraft.«
***
»Haben Sie es?«, fragte La Mettrie und wischte sich mit einem Tuch das Gesicht ab.
»Allerdings. Es hat unter der Fensterbank gesteckt. Unglaublich, wie Sie das von unten erkennen konnten.«
Der Franzose legte das Tuch weg und tippte sich an die Stirn. »Man muss seinen Verstand benutzen, dann geht alles ganz einfach. Und man darf sich nicht auf Eingebungen von oben verlassen, sondern man muss von dem ausgehen, was man sieht, fühlt, schmeckt, hört – kurz, was man wahrnimmt. Der Mensch ist ständig Wahrnehmungen ausgesetzt. Aber er muss sie verarbeiten, sonst …«
Der Franzose brach seine gelehrten Ausführungen ab, denn Quantz nahm das gefaltete Blatt. Er öffnete es und fand weitere Zettel darin eingelegt – einen größeren mit krumm gezogenen Notenlinien und Noten darauf und viele kleinere. Auf jedem der kleineren waren jeweils zwei Noten zu sehen. Auf dem großen stand ein kleines einstimmiges Musikstück.
»Und? Was meinen Sie?«, fragte La Mettrie.
»Sehr interessant … Einen Moment.« Quantz suchte alles zusammen, was er an Schriftstücken von Andreas besaß: die Tabelle, die wenigen Noten, die er bei seinen Besuchen geschrieben hatte. Ein Vergleich zeigte deutlich, dass die Zettelchen, die unter der Fensterbank gesteckt hatten, tatsächlich seine Handschrift trugen.
»Es ist von ihm«, sagte La Mettrie. »Aber was ist es? Eine Idee für eine Komposition? Ist es ein guter Einfall?«
»Das habe ich eben gemeint, als ich sagte, das Schriftstück sei interessant. Die Melodie ist nämlich – um es mal so auszudrücken – originell.«
»Wollen Sie mir sie vorsingen?«
»Da weiß ich etwas Besseres.« Quantz öffnete die Flötenschatulle, baute das Instrument zusammen und spielte ein paar Probetöne. Dann trug er vor, was auf dem Zettel stand.
La Mettrie hörte andächtig zu. »Ein Flusslauf, der einige unerwartete Wendungen nimmt. So würde ich die Melodie beschreiben«, sagte er.
»Kein schlechter Vergleich. Die unerwarteten Wendungen sind wirklich etwas Besonderes. Wenn ein Kompositionsschüler von mir mit einem solchen Thema käme, würde ich aufhorchen.«
»Verrät es Talent?«
»Das wird man erst erfahren, wenn man dem Schüler andere Aufgaben gibt und dann prüft, wie er sie löst. Allein dieser Einfall hier wirkt, als würde der Komponist sein Publikum mit allen Mitteln davon zu überzeugen versuchen, wie originell er ist.«
»Und worin besteht dieser Versuch? Verzeihen Sie, lieber Maître de Musique, so sehr bin ich in die Tiefen der Tonkunst nicht eingedrungen.«
Quantz deutete auf das Blatt. »Ganz einfach. Gefällige Melodien haben einen gewissen einheitlichen Aufbau. Denken Sie an die Lieder, wie sie die Ammen an der Wiege, die Frauen beim Spinnen der Wolle oder die Bauern auf dem Felde singen. Denken Sie an Tänze auf den Festen – egal, ob auf dem Lande beim einfachen Volk oder in den Sälen der Fürsten. Einfache Melodien haben gewöhnlich acht Takte, wobei die ersten vier und die zweiten vier gleich beginnen und sich nur in der Schlusswendung unterscheiden.«
La Mettrie blickte auf die Noten und runzelte die Stirn. »Und dies hier sind auch acht Takte. Aber wenn ich die Noten darin miteinander vergleiche …«
»Dann stellen Sie fest, dass dieses Prinzip verletzt wurde. Darin besteht die Originalität. Die ersten beiden Takte beginnen mit genau denselben beiden Noten, der letzte Takt ist genau wie der erste, aber die fünf Takte dazwischen sind vollkommen anders, wobei Takt fünf und sieben wieder die gleiche Anfangsfigur haben … Wie gesagt, ziemlich gewagt das Ganze. Recht konstruiert.«
»Könnte es sein«, fragte La Mettrie, »dass es ein Produkt dieser Tabellen ist, die Sie Kompositionsmaschine nennen?«
»Nein, das glaube ich nicht.«
»Übrigens ein interessanter Gedanke – eine Kompositionsmaschine. Das bringt mich darauf, dass alle Schöpfung doch irgendwelchen Gesetzen und Mustern gehorchen muss. Diese Muster sind in der Natur allenthalben vorhanden und aus ihr abzulesen. Es kommt nur auf die Methode an. Sie muss sehr fein sein, diese Methode, und sie muss sehr viele Dinge miteinander vergleichen können. Wenn das gelingt, wird man eines Tages auf dieselbe Weise, mit der Sie dieses Muster mit den vier und acht Takten erläuterten, auch zeigen können, warum sich bestimmte Organismen ähneln. Warum das Skelett aller Tiere, die eine Wirbelsäule haben, ähnlich gebaut ist. Und zu diesen Tieren gehört ja auch der Mensch …« La Mettries Augen begannen zu leuchten. »Man müsste die Mikrostruktur der Materie erforschen, man müsste nach Übereinstimmungen suchen. Ich bin sicher, man wird herausfinden, dass Menschen und Tiere mehr miteinander gemeinsam haben, als man denkt.«
»Sie haben viel gemeinsam«, sagte Quantz, der La Mettries Gedanken für absurd hielt. Er fragte sich, ob es eigentlich irgendetwas in der Welt gab, das La Mettrie nicht zu ausufernden philosophischen Ideen inspirierte. »Denn sie wurden vom selben Schöpfer erschaffen. Aber wir sollten bei unserer Aufgabe bleiben und nicht abschweifen.«
»Wenn ein Gott das alles erschaffen hat«, sagte La Mettrie, der den Einwand überging, »dann würde ich gern wissen, warum er so wenige Bauformen verwendet hat, um die Welt auszugestalten. Warum er alles auf einheitlichen Prinzipien aufbaute. Ein allmächtiger Gott hätte doch die Möglichkeit gehabt, ganz andere Prinzipien zu erfinden als zum Beispiel die Kralle oder die Hand oder die Wurzel, um etwas festzuhalten – und doch hat er Hühnern, Menschen und Bäumen genau dieses Prinzip zur Verfügung gestellt und kein anderes. Warum hat er den Menschen den Wunsch eingegeben, es den Vögeln gleichzutun und zu fliegen, ihnen aber nicht die Möglichkeit dazu verliehen? Warum muss man, um fliegen zu können, Vögel nachahmen? Warum haben alle Säugetiere Beine, auf denen sie gehen? Warum ähnelt sich das alles? Könnte es nicht viele Welten geben, die nebeneinanderher existieren und die ganz unterschiedlich sind? Was ist mit dem Phänomen der Zeit? Wieso können wir sie nicht zurückdrehen? Oder voranbringen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Quantz, dem es angesichts der Geschwindigkeit, mit der La Mettrie seine Anschauungen mit freier Assoziation in sehr abgelegene Dimensionen führte, schwindelte.
»Es gibt ein Grundprinzip«, rief La Mettrie, der schon längst nicht mehr Quantz ansah, sondern stirnrunzelnd vor sich hin stierte, als hätte er sich auferlegt, die von ihm selbst aufgestellten Probleme in diesem Moment zu lösen. »Und dieses Grundprinzip muss ich finden. Nicht nur der Mensch, die ganze Welt ist eine Maschine. Dass ich darauf nicht gekommen bin! Sie muss eine Maschine sein, die sich selbst gebaut hat und die selbst weiter eigene Unterabteilungen ihrer selbst einbauen kann … Sie ist Maschine und Erbauer der Maschine zugleich …« Er legte die Hand an die Stirn. »Ob Gott auch eine Maschine ist?«
»Diese Musik hat, soviel ich in so kurzer Zeit erkennen kann, nichts mit der Kompositionsmaschine zu tun«, sagte Quantz sehr bestimmt und hoffte, den Franzosen mit dieser klaren Aussage endlich wieder zur Besinnung zu bringen. »Hören Sie mich? Es ist etwas anderes.«
La Mettrie suchte Quantz’ Blick. »Wie bitte? Ach so, ja … Entschuldigen Sie. Aber was ist es dann?«