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»Die Kompositionsmaschine ist ein Werkzeug, mit dem man mehrstimmige Sätze schreiben kann. Eigentlich ist sie auch keine Kompositions-, sondern eine Kontrapunktmaschine. Dieses eigenartige Thema hier ist aber einstimmig. Der Kontrapunkt, die Gegenstimme, fehlt. Und wir sollten uns fragen, was es mit den Zetteln mit den Doppelnoten auf sich hat.« Er deutete auf die Reihe kleiner Zettel, die in dem großen Notenblatt gelegen hatten.

»Ja, lieber Herr Quantz, da haben Sie recht.« La Mettrie blätterte die Zettel durch. »Wenn ich das richtig sehe, dann sind von diesen Takten immer die beiden ersten Noten auf einigen der Zettelchen vermerkt. Als hätten sie eine eigene, losgelöste Bedeutung …«

»Ich sehe mir das an«, sagte Quantz. »Ich denke, ich erkenne das schneller als Sie. Aber Sie haben recht …«

Er sah sie durch, und es stellte sich heraus, dass jeweils die ersten beiden Noten der Takte drei bis sieben auf den Zettelchen vorhanden waren. Natürlich waren es nur einige von vielen.

La Mettrie zählte sie. »Es sind genau sechsundzwanzig«, sagte er.

»Und die ersten Noten der Takte eins, zwei und acht sind nicht dabei.«

»Als würden sie etwas einrahmen, auf das es dann wirklich ankommt, finden Sie nicht?«

»Nein, das verstehe ich nicht. Worauf kommt es denn an?«

La Mettrie starrte auf die ausgebreiteten Zettel. Da war das größere Blatt. Darum herum hatten sie die kleinen Papierchen angeordnet.

»Ich glaube, ich weiß es«, sagte der Franzose.

»Was wissen Sie?« Quantz streckte die Hand aus und schickte sich an, die kleinen Zettel mit den Notenpaaren geistesabwesend zu verschieben.

La Mettrie fiel ihm in den Arm. »Nicht durcheinanderbringen«, sagte er.

»Warum nicht?«

»Überlegen Sie! Es sind sechsundzwanzig Zettel. Genauso viele Buchstaben hat das Alphabet.«

»Sie meinen, jedes Notenpaar steht für einen Buchstaben?«

»Das könnte doch sein.«

»Aber warum finden wir dann die Notenpaare, die am Beginn der Takte eins, zwei und acht stehen, nicht in dem Material?«

»Weil das nur Fülltakte sind, damit man auf acht Takte kommt. Acht Takte muss das Thema haben, damit man keinen Verdacht schöpft, damit man es für ein schönes kleines Liedchen hält … Sie haben es doch selbst erklärt.« Er schlug sich mit der flachen Hand gegen seine runde Stirn. »Herr Quantz, wir haben es! Andreas Freiberger hat eine musikalische Chiffriermaschine gebaut. Wenn man einzelne Noten mit Buchstaben gleichsetzt, läuft man Gefahr, dass ein Außenstehender die Tatsache der Chiffrierung erkennt, denn die Noten ergeben unter Umständen musikalisch keinen Sinn. Wenn man aber jedem Buchstaben zwei aufeinanderfolgende Noten zuordnet, und diese Notenpaare sind – sagen wir – gängige Tonsprünge, wie man sie in der Melodiebildung immer wieder verwendet, dann wird niemand, der das Musikstück sieht, darauf kommen, dass darin etwas chiffriert wurde. Selbst ein ausgebildeter Musiker wird darin ein Musikstück sehen. Es wird ihm vielleicht etwas außergewöhnlich vorkommen, sogar originell, aber er wird nicht glauben, dass sich mehr dahinter verbirgt.«

»Sie meinen, man kann auf diese Weise Wörter in die Musik einflechten, die jemand, der den Schlüssel kennt, wieder herauslesen kann?«

»Ja, natürlich. Und es reicht ein einziges Wort! Sie wissen doch, dass die Chiffren des Königs auf einem einzigen Wort basieren, das er den Gesandten oder anderen Vertrauten in anderen Ländern und Reichen mitteilen muss. Wie leicht könnte auf der Reise ein Spion das jeweilige Wort herausfinden! Wenn man es aber in eine Partitur verpackt – womöglich in ein größeres Werk … Stellen Sie sich vor, Sie schreiben ein ganzes Flötenkonzert, oder ein Solo, und die ersten beiden Noten jedes Taktes, oder auch jedes vierten Taktes, entsprechen einem Buchstaben. Wie lang ist so ein Solo? Achtzig Takte? Hundert? Wie viele Buchstaben könnte man unterbringen? Genug, um nicht nur ein Schlüsselwort, sondern einen ganzen Kriegsplan einzuflechten. Je geschickter der Komponist ist, je raffinierter er das Grundmaterial musikalisch sinnvoll zu verarbeiten weiß, desto besser ist dieser Plan nutzbar. Und welcher Komponist könnte das besser als jemand, der sich mit der Mathematik des Kontrapunkts auskennt.«

»Und Andreas scheint ein solches Talent zu besitzen … Die Kompositionsmaschine beweist es.«

»Ganz recht. Es sind Beweise für seine Fähigkeiten. Er hat sie uns auf vielerlei Arten geliefert. Doch seine eigentliche Aufgabe war die Entwicklung eines solchen Chiffrensystems.«

»Seine eigentliche Aufgabe?«

»Was glauben Sie denn, wo er sich befindet? Sein Tod wurde vorgetäuscht. Er wurde entführt. Damit das nicht herauskommt, musste er in den Augen der Menschen in Potsdam einschließlich des Königs aus der Welt verschwinden. Und Sie waren der perfekte Zeuge für seinen Tod. Sie standen ohnehin in Verdacht, etwas mit Andreas zu tun zu haben, denn seine Neigung zur Musik hat ihn immer wieder zu Ihnen geführt.«

»Aber wer hat nun Andreas in seiner Gewalt?«

»Das ist logisch. Derjenige, der von dieser Chiffrenmethode profitiert.«

»Feinde des Königs?«

»Der Feind überhaupt. Oder sagen wir korrekter: die Feindin.«

»Die Kaiserin? Maria Theresia von Habsburg?«

»Höchstpersönlich. Oder vielmehr die Enden der Fäden, die sie in diese Stadt im Zentrum des für sie feindlichen Preußens gelegt hat, um hin und wieder daran zu ziehen. Beziehungsweise, um jemanden daran ziehen zu lassen. Vergessen Sie nicht die Desertionen. Die Flucht des Soldaten aus Ihrem Haus und der Tod des anderen Soldaten. Ich bin sicher, es ist eine einzige Quelle, auf die all diese Intrigen zurückzuführen sind.«

Quantz wurde von Schwäche ergriffen. Nun war er es, der sich in den Sessel setzen musste.

»Wenn Sie recht haben«, sagte er und spürte, wie sein Mund trocken wurde, »müssen wir das sofort dem König melden. Ich werde dann hoffentlich rehabilitiert. Wenn wir das alles aufdecken …«

»Dazu fehlt uns aber noch eine Kleinigkeit.« Der Franzose wandte sich wieder dem Stehpult zu. »Wir wissen noch viel zu wenig. Lassen Sie uns erst entschlüsseln, was in der Nachricht von Andreas steht. Wir werden ein wenig herumprobieren müssen. Vielleicht sind es nicht die ersten, sondern die letzten beiden Noten eines Taktes, die für einen bestimmten Buchstaben stehen. Und wir werden natürlich überhaupt nichts herausfinden, wenn wir nicht wissen, welcher Buchstabe mit welchem Notenpaar gemeint ist. Sie haben die Zettel doch der Reihe nach auf das Pult gelegt, oder? Ich meine, so, wie sie innerhalb des großen Blatts sortiert waren?«

»Ich glaube schon«, sagte Quantz vom Sessel her.

»Dann gehe ich einfach davon aus, dass sie in der Reihenfolge des Alphabets gelegen haben. Schreiben Sie bitte die Noten in der richtigen Reihenfolge auf. Dann haben wir das musikalische Alphabet, mit dem wir weiterarbeiten können. Wenn meine Theorie stimmt.« Er rieb die Handflächen aneinander und ging zur Tür.

»Wohin wollen Sie?«, fragte Quantz. Die Bewegung mit den Händen hatte La Mettrie schon mehrmals gemacht, aber jetzt schien noch etwas dazugekommen zu sein. Eine Art von Nervosität, schien Quantz.

»Nach Sophie sehen. Es dauert nur einen Moment. Warten Sie, bis ich zurück bin.«

***

Weyhe sah dem Lakaien hinterher, der die Überreste des Mittagsmahles abgeräumt hatte. Er wischte sich die Finger an der Serviette ab, die immer noch um seinen Hals hing, öffnete den Knoten und legte das Tuch zur Seite. Jetzt war sein Schreibtisch fast leer. Auf der Fläche lag nichts als ein versiegelter Brief, der heute Vormittag aus Berlin gekommen war.

Er brach ihn auf und überflog die Zeilen.

Es ging um den Musikus Quantz. Man hatte ihn auch in Berlin beschattet. Bei der Post war heute Morgen ein Schreiben abgefangen worden, das er an den Kantor Johann Sebastian Bach in Leipzig geschrieben hatte.