Der Brief war in den Bericht aus Berlin eingelegt. Natürlich war er bereits geöffnet und begutachtet worden.
Weyhes Leute in Berlin hielten das Schreiben laut Bericht für eine harmlose Anfrage eines Musikers an seinen fachlichen Gewährsmann. Doch Weyhe wusste es besser. Er las, was Quantz geschrieben hatte, legte den Brief weg und ging die anderen Nachrichten aus der preußischen Hauptstadt durch.
Bei Graf Bernes gab es neue Entwicklungen. Dr. Eichel, sein Leibarzt, besuchte ihn in letzter Zeit sehr häufig. Doch andere Mitteilungen besagten, dass sich der Graf außerordentlicher Gesundheit erfreue. Er gehe oft aus, ließ sich sogar in der Oper sehen und schien voller Kraft und Elan die Nächte mit Festen zu durchleben. Weyhe überlegte, welche Schlüsse er dem König gegenüber ziehen musste.
Die Frage war, welchen Aufgaben Graf Bernes’ Leibarzt nachging. Der Graf war verheiratet, doch die Gräfin weilte seit Monaten bei einer Verwandten in der Nähe von Graz. Familie hatte er keine.
Es musste angenommen werden, so hieß es in der Nachricht, dass der Graf einen unbekannten Gast beherbergte, der die Dienste des Leibarztes benötigte.
Weyhe nickte vor sich hin. Er wusste, wer der unbekannte Gast des Grafen war. Und welche Bedeutung diese Nachricht besaß. Denn Graf Bernes war ein wichtiger Mann. Ein Mann, der Potsdam nicht betreten durfte, wie alle Gesandten und vor allem nicht die Gesandten des Feindes.
Graf Bernes war der Botschafter der Kaiserin von Österreich.
23
Es dauerte eine Weile, bis La Mettrie zurückkam. Quantz nahm an, er habe noch dem Abtritt einen Besuch abgestattet. Doch als der Franzose das Zimmer betrat, schwankte er leicht, ließ sich in den Sessel fallen und sah den Kammermusiker aus glasigen Augen an.
»Was haben Sie getan?«, fragte Quantz.
»Nichts«, sagte La Mettrie mit lallender Stimme. »Das heißt – eine Menge. Nachgedacht. Gott … eine Maschine … eine Maschine, die sich selbst baut … gebaut hat.«
»Sie haben von der Opiumtinktur getrunken. Wäre es nicht besser, Sie blieben klar im Kopf – jetzt, wo wir kurz davor sind, das Rätsel zu lösen? Mein Gott, Monsieur!«
»Lassen Sie Gott aus dem Spiel. Mein Kopf ist so klar wie nie … zuvor.« La Mettrie versuchte ächzend, sich zu erheben, aber er sackte in den Sessel zurück. »Wer hat Sie, lieber Maître de Musique, denn auf den richtigen Weg gebracht? Wer hat Ihnen gezeigt, was in der Musik, mit der Sie sich ja so gut auskennen, noch alles steckt? Außerdem brauche ich gegen Nachmittag immer meine Dosis. Es hat schon ein Uhr geschlagen …«
Quantz schüttelte verärgert den Kopf. Er nahm den Bogen Notenpapier, auf dem er das Abecedarium erarbeitet hatte. Wie es sich Andreas – vorausgesetzt, La Mettries Theorie stimmte – gedacht hatte.
»Ja, lesen Sie nur.« Er lachte blöde vor sich hin. »Lesen Sie und erkunden Sie das Geheimnis. Ich bin selbst gespannt …«
Also gut, dann fiel La Mettrie eben mal wieder aus. Es ging sicher auch ohne ihn. Quantz verglich seine Liste mit der kleinen eigenartigen Melodie. Dann unterzog er die Noten einer eingehenden Prüfung. Tatsächlich waren es nur jeweils die ersten beiden Noten der Takte drei bis sieben, die in dem System vorkamen. Hinter Quantz schabte der Sessel über den Parkettboden. La Mettrie war es umständlich gelungen, sich zu erheben. Nun kam er mit schweren Schritten heran. Als er neben dem Pult stand, reckte er sich, dass in seinem Rock die Nähte ächzten.
»Sie sollten es noch einmal mit dieser Tinktur probieren, die ich schon seit Jahren zu nehmen pflege. Man erhält sie in der Apotheke ›Zum schwarzen Bären‹. Sie werden ein ganz anderes Gespür für Ihren Körper erhalten, mein Lieber. Damit liegt es in unserer Zeit ja ohnehin im Argen. Jeder versteckt in enger Kleidung das, woraus er doch eigentlich besteht, die Frauen schnüren sich ein … Das kann doch nicht im Sinne des Erfinders unserer göttlichen Maschine sein. Haben Sie das gehört? Haha – ein genialer Gedanke, oder? Göttliche Maschine … Oder angeblich göttliche Maschine. Ich werde mein Buch neu schreiben müssen. Wo war ich? Ach ja – man möchte sich am liebsten jeden Fetzen Stoff vom Leibe reißen, vor allem bei diesem herrlichen Wetter … Sind Sie schon mal nackt geschwommen? Es ist eine göttliche Erfahrung. Und um Potsdam herum gibt es so viel Wasser. Wissen Sie was? Wenn wir das hier hinter uns haben, gehen wir schwimmen. Und wir nehmen Sophie mit. Sicher hat sie auch nichts dagegen, sich einmal von ihrer angenehmsten, sprich von ihrer unbekleideten Seite zu zeigen. Hehehe …« Eine feuchte Speichelspur rann aus seinem rechten Mundwinkel.
»Mäßigen Sie sich Monsieur«, sagte Quantz streng.
Der Franzose sah ihm von der Seite zu, als Quantz auf seiner Liste die Buchstaben, die sich aus den in Frage kommenden Notenpaaren ergaben, einkreiste.
»Schon gut, schon gut«, stöhnte er und wischte sich über den Mund.
»B«, sagte Quantz. »Das Wort fängt mit B an.«
»Weiter, weiter«, drängte der Franzose.
»R ist der zweite Buchstabe. Und der dritte ein E.«
»Das E kommt am Schluss wieder«, sagte La Mettrie stirnrunzelnd, offensichtlich um Konzentration bemüht. »Wussten Sie eigentlich, dass das E der Buchstabe ist, der in deutschen Texten am reichhaltigsten vertreten ist? Versuchen Sie einmal, etwas zu schreiben und das E zu vermeiden. Gar nicht so einfach. König ging mit Quantz zum Park. Sophie macht ihr Wams auf. Ach nein, in Sophie ist ja ein E enthalten. Hehehe.«
»Bitte! Monsieur!«
»Oh! Mon Dieu! Mir wird auf einmal so schlecht.« La Mettrie wankte zum Sessel zurück.
Die Information des Franzosen war nicht uninteressant. Dem E hatte Andreas ein Notenpaar zugeordnet, das in sehr vielen Melodien eine Rolle spielte. Dass er dies einkalkuliert hatte, zeigte, wie durchdacht sein System war.
Und plötzlich stand Quantz das Wort vor Augen.
»Brede«, sagte er. Sein Kutscher? War er damit gemeint?
»Brede, Brede«, wiederholte La Mettrie, den Kopf auf der Lehne und das Gesicht zur Decke gewandt. Er verdrehte die Augen.
»Haben Sie Schmerzen?«, fragte Quantz.
»Brede. Das ist doch der Mann, der Sie in der Nacht hinauf nach Bornstedt gefahren hat? Als Sie die angebliche Leiche von Andreas fanden? Der Kutscher, der immer zwischen Berlin und Potsdam unterwegs ist?« La Mettrie begann zu lachen, als ob die Neuigkeit etwas zutiefst Komisches wäre. »Brede«, sagte er prustend und schüttelte dabei den Kopf.
»Ich weiß nicht, was es da zu lachen gibt«, sagte Quantz.
»Oh, lieber Maître de Musique. Irgendwer muss doch die Soldaten aus der Stadt bringen. Irgendwer muss Kontakt nach Berlin halten. Und da es noch keine regelmäßige Kutschenverbindung gibt … Der König will ja demnächst eine einrichten, aber so schnell geht das nicht. Ach, Brede …« Als sei das ein beruhigendes Ergebnis einer langen, schwierigen Arbeit, schloss La Mettrie die Augen. Sein Gesicht war weiß wie Kalk.
Quantz starrte eine Weile auf das Blatt mit dem Alphabet. Hatte er das wirklich richtig entziffert? Vielleicht hatte er sich geirrt. Vielleicht stimmte die Zuordnung der Buchstaben zu den Notenpaaren nicht. Vielleicht war die Reihenfolge beim Öffnen des gefalteten Zettels durcheinandergeraten.
Brede … Der Kutscher wohnte in der Nähe der Heiliggeistkirche. Man konnte mit ihm sprechen.
»Monsieur?«, fragte Quantz und wandte sich zum Sessel um. »Wir sollten Herrn Brede einen Besuch abstatten.«
La Mettrie, der immer noch die Augen geschlossen hatte, gab leise Schnarchgeräusche von sich.
Quantz sah nach Sophie. Auch sie schlief, ebenfalls vom Opium betäubt. Dann verließ er das Haus und eilte den Kanal hinunter.
Als er den Turm der Heiliggeistkirche aufragen sah, wurde es etwas stiller in den Gassen. Nur ein paar Frauen saßen, mit Näharbeiten beschäftigt, in den Eingängen der kleinen Häuschen und sahen ihn neugierig an.