Es roch nach Teer und dem vermodernden Holz alter, trocken liegender Kähne. Die Fischer waren draußen auf der Havel. Von dem Fluss war wenig zu sehen. Die Akzisemauer, etwa zwei Mannslängen hoch und mit einem Ziegeldach gekrönt, versperrte die Sicht. Auf der Havelinsel war darüber hinaus eine Holzpalisade errichtet worden, an der Wachen patrouillierten.
Quantz ging am Kirchenschiff entlang, bis er an Bredes Remise ankam. Hinter dem geschlossenen Tor schnaubten die Pferde. Auf die Hauswand darüber hatte der Kutscher seinen Nachnamen hinmalen lassen.
Vielleicht hatte Andreas mit seiner Botschaft gar nicht den Namen selbst mitteilen wollen, sondern er hatte das Haus gemeint, das in gewissem Sinne diesen Namen trug? Er hatte also nicht den Kutscher, sondern das Gebäude gemeint. War Andreas gar hier?
»Der Herr Kammermusikus. Wenn das keine Überraschung ist!«
Professor Sartorius war so lautlos herangetreten, dass Quantz vor Schreck zusammenfuhr. Neulich hatte Quantz ihn schon einmal hier getroffen und war mit genau denselben Worten begrüßt worden.
Sartorius hatte ihm noch gefehlt! Quantz konnte jetzt in seinen Überlegungen keine Vorlesungen über die Geschichte von Potsdam gebrauchen. Trotzdem gebot es die Höflichkeit, dass er ein wenig plauderte.
»Ich sehe«, sagte er, »Sie gehen immer noch Ihrer Passion nach, die Gegend zu erkunden.«
Der Professor strich sich durch seinen eisgrauen Bürstenbart. »Erkunden ist nicht das richtige Wort, Herr Kammermusiker. Ich sammle. Das ist der richtige Ausdruck. Ich sammle wertvolle Informationen. Haben Sie einmal über die Idee nachgedacht, über die wir beim letzten Mal gesprochen haben?«
»Ich bin noch nicht dazu gekommen, es tut mir leid«, sagte er, während er sich zu erinnern versuchte, was der Professor meinte. Es hatte mit Griechenland und der Musik der Antike zu tun …
Sartorius hielt ihn am Arm fest. »Aber die Musik des Orpheus zu finden, sollte Ihnen doch ein Anliegen sein. Denken Sie nur, welche Furore wir damit machen könnten. Und die Trompeten von Jericho …«
»Ich werde darüber nachdenken. Wenn Sie mich entschuldigen wollen. Ich muss zu Herrn Brede, einige Dinge besprechen. Wegen Fahrten nach Berlin …«
»Wenn Sie wieder einmal dort sind, besuchen Sie mich. Ich kehre morgen nach Berlin zurück.«
Quantz verabschiedete sich eilig, und der Professor entfernte sich in Richtung Kirchenportal. Als Quantz allein war, klopfte er bei Brede, doch niemand öffnete.
Merkwürdig. In solchen Geschäften war eigentlich immer jemand zu Hause. Mindestens die Hausfrau. Oder der rothaarige Gehilfe Franz. Und irgendwer musste sich ja auch um die Pferde kümmern. Vielleicht hatte Brede gerade eine Fahrt zu machen, oder er stand mit seiner Kutsche auf dem Alten Markt vor dem Schloss und wartete auf Kunden. Ja, das war es wohl.
Quantz betrat den Stall. Wieder war ein Schnauben zu hören. Als sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, erkannte er einen Schimmel, der nervös mit den Hufen scharrte.
Vor irgendetwas hatte das Tier Angst. Doch nicht etwa vor ihm? Ein Kutschpferd musste doch an Menschen gewöhnt sein. Vielleicht war das Pferd neu.
»Herr Brede?«, fragte Quantz in die Dämmerung hinein. »Ist da jemand?«
Sieben Tiere hatten in dem Stall Platz. Aus den Verschlägen stank es nach nassem Stroh und Pferdeäpfeln.
Quantz ging an der letzten Abteilung vorbei und gelangte an eine Tür, die in das Nachbarhaus führte. Er öffnete sie und trat in einen großen Raum, in dem drei Kutschen standen. Die Fahrzeuge wirkten sehr sauber und gepflegt. Das schwarze Holz glänzte in dem schwachen Dämmerlicht. Wo wohnte Brede eigentlich genau? Über dem Stall? Oder nebenan?
»Ist hier jemand?« Die Fahrzeuge wirkten riesig. Es roch nach Schmierfett und Staub.
»Herr Quantz?«, sagte eine tiefe Stimme. Sie gehörte nicht Brede, und der Mann, der jetzt vor ihm stand, war auch nicht der Kutscher. Von der anderen Seite näherte sich noch jemand. Die beiden Männer sahen sich ähnlich. Der eine war allerdings etwas größer und älter als der andere. Wahrscheinlich waren es Brüder.
»Steht Er in Diensten bei Brede?«, fragte Quantz den Älteren.
»Nein, wir stehen in Diensten Seiner Majestät des Königs«, sagte er mit Stolz in der Stimme.
Schon hatte er ihn gepackt. Quantz wollte die Hand abschütteln, doch da kamen noch mehr Männer herein. Drei Grenadiere mit Gewehren und Bajonetten. Sie mussten sich bücken, als sie mit ihren Metallhelmen durch die niedrige Tür hereinkamen.
»Was ist los?«, rief Quantz. Sein Herzschlag beschleunigte sich von Sekunde zu Sekunde.
»Nun komm Er schon«, brummte einer der Soldaten und wehte Quantz eine Alkoholfahne ins Gesicht. »Sollen wir hier bis zum Jüngsten Tag herumstehen?«
Quantz’ Schrecken verwandelte sich in Zorn. Nebenan wieherte ein Pferd. Es schien die Aufregung, die plötzlich in der Luft lag, zu spüren. »Wie kommen Sie dazu, so mit mir zu sprechen? Wo ist Brede?«
»Das wüssten wir auch gern«, sagte der ältere der beiden, die Quantz zuerst festgehalten hatten. »Sie können es uns sicher sagen. Aber nicht hier.«
»Wohin wollen Sie mit mir?«
»An einen Ort, wo Sie sich besser unterhalten können.«
»Mit wem?«
Er bekam keine Antwort. Stattdessen traten auf den Wink des Zivilisten hin die Grenadiere vor und nahmen Quantz in die Mitte.
Rat Weyhe saß hinter seinem Schreibtisch, als sie Quantz hereinbrachten. Der Raum hatte sich seit dem letzten Besuch verändert. Papierstapel bedeckten den Tisch, und auch links und rechts des pompösen Arbeitsplatzes stapelten sich Akten und bildeten Türme auf dem Parkettfußboden.
Die Soldaten gingen. In der Ecke standen vier damastbezogene Stühle, doch man bot ihm keinen Platz an.
Dafür lehnte sich Weyhe gemütlich zurück. »Der Herr Musikus«, sagte er, »war also bei Brede.«
»Warum auch nicht?«, sagte Quantz. »Ich nehme seine Dienste hin und wieder in Anspruch, und so habe ich Grund, ihn aufzusuchen.«
»Und? Haben Sie ihn angetroffen?«
»Nein. Das werden Ihnen Ihre Gehilfen sicher schon gesagt haben.«
Er hatte mindestens eine halbe Stunde, von den Grenadieren bewacht, vor Weyhes Zimmer warten müssen.
Zuvor waren sie durch die Stadt gegangen – neugierig beäugt von den Flaneuren rund um das Schloss. Jeder hatte begriffen, dass der Musiker nicht freiwillig mit der Eskorte mitging, sondern dass er verhaftet worden war.
»Was glauben Sie, woran das liegt?«, fragte Weyhe. »Dass Brede nicht zugegen war, meine ich.«
»Woher soll ich das wissen? Herr Rat – warum wurde ich hierher gebracht?«
»Wissen Sie nicht, wo Brede steckt? Oder wollen Sie es uns nicht sagen?«
»Suchen Sie ihn eben. Vielleicht fährt er jemanden. Oder er ist auf dem Alten Markt. Verdächtigen Sie ihn wegen irgendetwas?«
»Wegen irgendetwas …«, machte Weyhe Quantz nach. »Sie sind exzellent darin, sich dumm zu stellen. Aber das ist nichts Neues.« Der Rat beugte sich vor, legte die Unterarme auf den Tisch und betrachtete Quantz, wobei er den Kopf ein wenig in den Nacken legen musste. »Sie wissen, Herr Musikus, dass wir Sie im Auge behalten haben. Bei unserer letzten Zusammenkunft, bei Ihrem letzten Gespräch mit dem König, haben Sie es erfahren. Sie wissen, dass wir Sie verdächtigen, in den Tod von Andreas Freiberger verstrickt zu sein. Und in seine Machenschaften, die auf ein schweres Verbrechen hindeuten. Spionage. Verrat. Freiberger hat sich die Nähe zu Seiner Majestät zunutze gemacht, um Geheimnisse weiterzugeben.«
»Was hat Brede mit all dem zu tun?«
»Lassen Sie mich Ihnen etwas erklären. Nur damit Sie sehen, wie offen wir Ihnen gegenüber sind, Herr Musikus. Und damit Sie verstehen, was wir bereits wissen. Damit Sie sich keine falschen Hoffnungen machen. Damit Sie uns alles sagen, um wenigstens jetzt noch Ihre Loyalität zu beweisen. Nur deswegen erkläre ich es Ihnen. Wir glauben, dass Brede den Freiberger beauftragt hat zu spionieren. Und dass dieser harmlos wirkende Kutscher auch hinter den Desertionen steckt, die – damit verrate ich kein Geheimnis – Seiner Majestät seit einiger Zeit Kopfzerbrechen bereiten. Wenn Soldaten aus der Armee fliehen, ist das schon schlimm genug. Aber wenn es dann auch noch Angehörige der Leibgarde sind, dem Regiment, das dem König am treuesten ergeben ist …«