Doch auf der langen schnurgeraden Straße war nur das übliche Volk unterwegs. Dazu Boten, Reiter, Karren, hin und wieder eine kleinere Mietkutsche.
Keine Spur von den Franzosen.
Wahrscheinlich waren sie ihm schon weit voraus. Zum Glück verlor er am Tor keine Zeit. Als ihn die Wachen erkannten, winkten sie ihn durch.
»Schneller«, rief Weyhe nach vorn, und der Kutscher trieb die Pferde an. Es dauerte nur wenige Minuten, da waren sie die Kurven hinaufgefahren und kamen an die steile Rampe. Als sie endlich den Ehrenhof erreichten, sprang er hinaus – und blieb vor Überraschung mit offenem Mund stehen.
Der Platz war bis auf zwei Wachsoldaten der Leibgarde leer!
»Rat Weyhe«, rief er aufgebracht. »Mit Ordre vom König. Wo ist die Kutsche der Franzosen?«
Die beiden Soldaten sahen ihn verständnislos an. »Kutsche? Franzosen?«
»Sie muss gerade eingetroffen sein. Monsieur d’Argens, Algarotti und Herr Musikus Quantz sind darin. Und Hauptmann Voigt. Wo sind sie?«
»Wir haben keine Kutsche gesehen«, sagte der eine Grenadier so langsam, dass er Weyhe schon mit diesen wenigen Worten zur Weißglut trieb.
»Verdammt noch mal«, schrie er aufgebracht. »Sie müssen hier sein. Sie wollten auf direktem Weg …«
Hinter ihm näherte sich ein weiteres Fahrzeug. Dicke eisenbeschlagene Räder rumpelten die Rampe herauf. Pferdehufe traten auf den Kies. Weyhe drehte sich um. Die Kutsche der Franzosen war da.
»Da ist sie doch, ihr Kretins«, rief er den beiden Soldaten zu und lief dem Fahrzeug entgegen. Der Mann bremste die Pferde. Weyhe stellte sich neben den Schlag und trat sicherheitshalber ein paar Schritte zurück, damit er nicht die Tür gegen den Kopf bekam. D’Argens und Algarotti stiegen aus.
»Oh, Monsieur Weyhe, wenn ich mich nicht irre?«, sagte der Franzose und machte eine lässige Verbeugung.
Weyhe war so überrascht, dass er sich reflexartig ebenfalls verbeugte. Als er den Kopf wieder hob, schlenderten die beiden Kammerherren auf den Eingang des Schlosses zu. Dort standen zwei weitere Grenadiere und machten ehrfürchtig Platz.
Der Kutscher hatte die Seitentür geschlossen und wollte wieder auf seinen Bock steigen. »Halt«, schrie Weyhe. »Wo ist der Musikus? Wo ist der Hauptmann?«
Der Mann zuckte mit den Schultern. »Hier ist kein Hauptmann. Der Herr Kammermusiker auch nicht.«
»Sind sie unterwegs ausgestiegen?«
»Nein.«
»Will Er mich veralbern? Moment«, schrie er den beiden Herren hinterher, die schon das Vestibül erreicht hatten. Schnell lief er ihnen nach und ging mit ihnen hinein. »Wo ist der Musikus Quantz?«, fuhr Weyhe die beiden an.
»Was wollen Sie?«, fragte Algarotti, der in die Betrachtung der Marmorstatue des Kriegsgottes Mars versunken schien. Sein italienischer Akzent kam Weyhe in diesem Moment sehr arrogant vor.
»Monsieur Weyhe, was soll das?«, fragte nun auch d’Argens. »Woher sollen wir wissen, wo Herr Quantz ist? Und ich muss Sie doch bitten, sich zu mäßigen. Seine Majestät –«
»Seine Majestät wird gleich erfahren, welches perfide Spiel Sie mit mir gespielt haben«, brüllte Weyhe. »Das wird Sie teuer zu stehen kommen, meine Herren, sehr teuer. Ihnen ist wohl nicht bewusst, dass Seine Majestät der König …«
Die Tür zum Audienzraum öffnete sich, und ein Lakai trat heraus. Hinter ihm, wie immer in blauem Rock, mit Hut und in Stiefeln, stand der Monarch und schickte den Ankömmlingen einen eisigen Blick entgegen.
»Wer erlaubt es sich, hier so herumzubrüllen?« Er trat in das Vestibül und sah seine beiden Kammerherren an, die sich wie auch Weyhe sofort verbeugten.
»Mir wäre eine rasche Antwort lieber als dieses unterwürfige Getue«, sagte Friedrich und fasste Weyhe ins Auge. »Der Herr Rat«, stellte er fest. »Habe ich mich getäuscht, oder habe ich gerade Ihre Stimme gehört? Gibt es einen Grund, warum Sie hier in meiner Residenz so laut werden? Sonst bin ich dergleichen nur vom Exerzierplatz gewohnt, und dann auch nicht von meinen Räten, sondern von den Unteroffizieren.« Der König nahm seelenruhig eine Prise Schnupftabak, wobei ein paar der schwarzen Krümel auf seinem ohnehin bereits befleckten Kragen landeten. »Ich wünsche sofortige Aufklärung für das ungestüme Verhalten. Und für Ihre Anwesenheit. Haben Sie Neues zu berichten?«
»Nein, Majestät … Ich meine …« Weyhe schielte kurz zu den Kammerherren hin, die die Szene mit unbewegten Gesichtern verfolgten. Diese verdammte Ausländerbande! Sie steckte mit dem Musikus unter einer Decke! Er hätte es wissen müssen – spätestens, als die beiden Kilians ihm mitteilten, dass sich Quantz zu den Freunden des verrückten Philosophen La Mettrie zählte. Wo war der eigentlich? Als Dritter im Bunde hätte er gut dazugepasst.
»Ich höre«, sagte der König. »Hat es Ihm die Sprache verschlagen?« Er nickte den beiden Kammerherren zu, denen daraufhin die Tür zum Marmorsaal geöffnet wurde.
Der Raum war von hellem Licht durchflutet, und als die beiden darin verschwanden, wirkte es, als lösten sie sich in Sonnenstrahlen auf. Sekunden später war die Tür wieder zu. Das Dämmerlicht im Vestibül erschien umso dunkler. Weyhe war mit dem König allein.
»Es war ein Missverständnis«, sagte er und verbeugte sich ein weiteres Mal. »Ich bitte, mich entfernen zu dürfen.«
»Haben Sie mir nicht in größten Tönen versprochen, bald Licht in das Dunkel um die Ereignisse um den toten Lakaien zu bringen? Wollten Sie mir nicht auf dem Silbertablett präsentieren, welche Rolle mein Musikus Quantz in der ganzen Geschichte spielt? Haben Sie mir nicht mit Verdachtsmomenten gegen den Musikus in den Ohren gelegen, die Sie mir bald beweisen wollten?« Der König legte die Hände auf den Rücken und reckte den Oberkörper.
»Wie gesagt«, sagte Weyhe. »Ein Missverständnis. Ich hatte den Eindruck, jemand sei meinem Zugriff entkommen. Jemand habe sich nicht um die Befehle geschert, die ich im Namen Eurer Majestät ausgesprochen habe.«
»Weyhe«, sagte der König, »Sie sind wohl einem Fehler verfallen, den viele Menschen begehen, die in meinen direkten Diensten stehen. Sie glauben, Sie hätten nun selbst etwas von der Macht an sich, die ich von Geburt an erhalten habe. Doch dieser Schein trügt. Ich habe mich entschlossen, diese Macht nicht zu missbrauchen. Und soweit etwas von dieser Macht überhaupt auf meine Diener abfärbt, befehle ich ihnen, ebenso zu handeln.«
Der König wandte sich ab, man öffnete ihm ebenfalls die Tür zum Marmorsaal. Einen Moment war seine Silhouette sichtbar, dann wurde die Tür wieder geschlossen.
Weyhe atmete tief durch und verließ das Schloss. Seine Kutsche hatte auf dem Ehrenhof gewartet, und er stieg ein.
Nicht er hatte den entscheidenden Fehler gemacht. Es waren seine beiden Helfer, die Kilian-Brüder. Sie hatten Quantz zu früh festgenommen. Verdammte Idioten!
Der Musikus war in Bredes Haus gewesen, gut. Aber das war noch kein Beweis für Quantz’ Machenschaften. Der Musikus wäre vielleicht sogar in einem Verhör beim König mit dieser Geschichte durchgekommen. Warum sollte er nicht bei Brede sein? Der Kutscher fuhr ihn täglich durch Potsdam und hin und wieder sogar nach Berlin.
Der Kutscher wartete bewegungslos auf seinem Bock. Weyhe rief durch das Fenster zu ihm hinauf. »In die Stadt! Erst zur Schlosswache.« Dort würde er sich weitere Grenadiere bereitstellen lassen. »Und dann ins Fischerviertel.«
***
Quantz und La Mettrie traten aus der Heiliggeistkirche hinaus in die Sonne und gingen hinüber zu Bredes Remise.
»Ich frage mich, wo der Kutscher ist«, sagte Quantz. »Ob er sich versteckt hat?«
»Wahrscheinlich. Es gibt ja genügend Möglichkeiten, wenn man sich vergegenwärtigt, was uns der Herr Professor eben erklärt hat.«
Quantz blieb stehen. Als hätte das helle Licht den Verdacht, den er in der Kirche entwickelt hatte, verblasst, keimten Bedenken in ihm auf. »Wäre es nicht besser, wir meiden dieses Haus und seine Geheimnisse? Wenn Weyhe und seine Leute ein zweites Mal hier auftauchen, beginnt alles von vorn. Nur dass die Grenadiere des Rats dann gleich zwei Verdächtige verhaften können.«